In ihrer Neujahrsansprache zog Angela Merkel die Zügel an. Das Land ist seit fast 100 Tagen ohne eine gewählte Regierung. Jetzt beginnen Gespräche mit der SPD.
Wie eine Regierungschefin, die demnächst daran denkt, in den Ruhestand zu gehen, klang Angela Merkel nicht, als sie sich in ihrer bereits 13. Neujahrsansprache aus ihrem Büro im Kanzleramt an die Deutschen wandte. Aus der Dunkelheit ragte im Hintergrund der Bundestag samt seiner gläsernen Kuppel, in dem die Kanzlerin seit nunmehr fast 100 Tagen ohne tragfähige Mehrheit ist. Die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition hatten sich nach wochenlangen enervierenden Sondierungen zerschlagen, und die Gespräche mit der SPD, dem bisherigen Juniorpartner, treten in dieser Woche in eine erste zaghafte Phase des Abtastens und Auslotens.
Über die Weihnachtsfeiertage hatte Merkel beim Skilanglauf im Schweizer Engadin Zeit zum Ausspannen und Auslüften. Und ihr muss klar geworden sein, die Zügel im vierten Monat nach der Bundestagswahl anzuziehen – der längsten Phase der politischen Ungewissheit in der deutschen Nachkriegsgeschichte. „Die Welt wartet nicht auf uns“, so fasste Merkel ihre Neujahrsbotschaft zusammen. Tatsächlich warten die EU-Granden in Brüssel und Emmanuel Macron in Paris auf eine stabile Regierung in Berlin, um den Reformstillstand in Europa zu beenden.
In ihrer traditionellen TV-Rede ging Merkel auf die Sorgen der Deutschen ein, auf den vermeintlichen Riss, der sich durch das Land ziehe; auf die zwei Seiten Deutschlands: ein Land des Erfolgs und der Zuversicht und ein Land der Ängste und des Zweifels. „Wir müssen uns wieder stärker bewusst sein, was uns im Innersten zusammenhält.“
Appell an die SPD
Das Gemeinsame müsse wieder deutlicher in den Vordergrund gestellt werden, mahnte sie in einem Appell, der sich in erster Linie an die koalitionsmüden Sozialdemokraten richtete. Die SPD hat sich nur widerwillig auf Sondierungen mit der Union eingelassen, nachdem sie sich nach der Wahlschlappe erst den Gang in die Opposition verordnet hatte. Bevor die Verhandlungen am Sonntag losgehen werden, treffen sich die Parteichefs zu einer informellen Runde. Nicht mit dabei bei den Sondierungen ist allerdings Vizekanzler und Außenminister Sigmar Gabriel.
CSU-Chef Horst Seehofer gab bereits eine Zielmarke für das Ende der Regierungsbildung aus: Ostern. Seine CSU setzt vor ihrer Winterklausur die SPD zudem mit Forderungen nach einer härteren Flüchtlingspolitik und einer Aufstockung des Verteidigungsetats auf zwei Prozent des BIP gehörig unter Druck.
„Tödliche Umarmung“
Auch die SPD hat indessen Hürden aufgebaut. In drei Etappen muss erst der Parteivorstand, danach ein Parteitag und schließlich eine Urwahl unter den SPD-Mitgliedern den Weg in eine neue große Koalition, die dritte der Ära Merkel, absegnen. Große Teile der Partei zieren sich gegen die „tödliche Umarmung“ durch die Bundeskanzlerin. Erst ein Machtwort des Bundespräsidenten, Frank-Walter Steinmeier, des langjährigen SPD-Außenministers, brachte die Partei vor Weihnachten zur Räson. In den Umfragen hat sie derweil weiter an Terrain verloren und ist sogar unter die 20-Prozent-Marke gesackt, ein historischer Rekordwert im negativen Sinn. Der vor einem Jahr kometenhaft vollzogene Aufstieg des Parteichefs Martin Schulz endete in einem ebenso jähen Absturz. Den Deutschen gilt er als „Verlierer des Jahres“. Zuletzt tauchte Schulz ganz ab.
Ex-SPD-Chef Gabriel, der am liebsten Minister bleiben würde, hat dagegen über die Weihnachtsferien mit einer Reihe von Gastbeiträgen und Interviews aufhorchen lassen, in dem er versuchte, seiner Partei die Richtung vorzugeben und sie in eine Neuauflage der geschrumpften großen Koalition zu lotsen. Er glaubt, dass die SPD in der Opposition zwischen den Extremen, der Linkspartei und der AfD, zerrieben werden könnte. Am Ende könnte die SPD zwischen allen Sesseln sitzen. Von den Unionsparteien fordert er: „Die müssen aus ihrer Deckung kommen.“
Schwanengesang auf die Kanzlerin
Indessen spricht sich beinahe die Hälfte der Deutschen für einen baldigen Abgang Angela Merkels aus – jedenfalls noch vor Ende der Legislaturperiode im Jahr 2021. Selbst in der CDU sticheln Hinterbänkler gegen die Regierungschefin, die seit mehr als zwölf Jahren im Amt ist. Vor allem trachtet jedoch die FDP mit einem Schwanengesang auf Merkel aus der Defensive zu kommen, in die sie nach der Aufkündigung der Jamaika-Sondierungsgespräche geraten ist. Christian Lindner und Wolfgang Kubicki, das eloquente Führungsduo der Liberalen, plädiert neuerdings für eine Erneuerung an der CDU-Spitze und ein Ende der Ära Merkel, um einer Jamaika-Koalition eine zweite Chance zu geben.
Dies ist allerdings unrealistisch. Scheitern die Verhandlungen mit der SPD, könnte zunächst eine Minderheitsregierung unter Merkel unter Einbeziehung von Experten die Amtsgeschäfte führen, ehe eine Neuwahl die Karten neu mischt. Eine Allianz unter neuen Vorzeichen, etwa eine Kooperation zwischen CDU/CSU und SPD mit weitgehend freien Mehrheitsverhältnissen im Bundestag, lehnt die Kanzlerin ab. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) kann einem solch kreativen Modell indes einiges abgewinnen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2018)