Warum die Iraner auf die Barrikaden gehen

Die Protestwelle, die aus der Provinz und der zweitgrößten Stadt, Maschad, ausgegangen ist, hat auch bereits den Uni-Campus in Teheran erreicht.
Die Protestwelle, die aus der Provinz und der zweitgrößten Stadt, Maschad, ausgegangen ist, hat auch bereits den Uni-Campus in Teheran erreicht.(c) REUTERS (SOCIAL MEDIA)
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Der Protest gegen das Regime erfasst immer weitere Teile des Landes. Die hohe Arbeitslosigkeit in ihrer Altersgruppe treibt vor allem junge Männer aus ärmeren Schichten auf die Straße. Revolutionsgarden schufen sich Quasimonopol.

Tunis/Teheran. Sechs Tage lang hatte er zu den Unruhen geschwiegen. Am Dienstag dann meldete sich Ayatollah Ali Khamenei, Irans oberster Führer, erstmals zu Wort. Das nächtliche Aufbegehren tat er in einer Rede vor Kriegerwitwen als eine Verschwörung der „Feinde des Iran“ ab. Kein Wort zu den Rufen der Demonstranten nach mehr Freiheit und sozialer Gerechtigkeit oder zu ihrer Kritik an der kostspieligen Präsenz Teherans in Syrien, im Jemen, Libanon oder Irak. „Ich werde zur gesamten Nation sprechen, wenn die Zeit dafür reif ist“, beschied Khamenei.

Die Unruhen erfassen derweil immer weitere Teile des Landes. Mindestens 22 Menschen, darunter ein Polizist und ein junger Revolutionswächter, sind bisher gestorben. Den schwersten Zwischenfall gab es in dem Städtchen Qahderijan nahe Isfahan. Dort wurden sechs Demonstranten erschossen, als eine Menge versuchte, die örtliche Polizeistation zu stürmen und Waffen zu erbeuten. Allein in Teheran wurden nach offiziellen Angaben bisher 450 Menschen festgenommen, in Isfahan über 100, fast alle jünger als 25 Jahre. In der iranischen Hauptstadt, wo vor einem halben Jahr ein Reformer zum Bürgermeister gewählt worden war, kündigten die Revolutionsgarden an, man werde dem Geschehen nicht weiter tatenlos zusehen und gegebenenfalls in eigener Regie für Ordnung sorgen.

200 Mrd. Dollar versickert

Zuvor hatte Präsident Hassan Rohani bereits zweimal über die Medien versucht, Entgegenkommen zu signalisieren und die Gemüter zu beruhigen. „Die Menschen wollen über die Wirtschaftsprobleme reden, über die Korruption und den Mangel an Transparenz beim Agieren mancher Organe, und sie wollen eine offenere Atmosphäre“, twitterte er.

Die Demonstranten rekrutieren sich meist aus jungen Männern zwischen 20 und 30 Jahren, die aus einfacheren und armen Schichten kommen. In ihrer Altersgruppe liegt die Arbeitslosigkeit bei 40 Prozent, auf dem Land ist sie deutlich höher. Trotzdem wurden Anfang Dezember im jüngsten Staatshaushalt die Mittel für Sozialhilfe gekürzt, während religiöse Stiftungen und revolutionäre Organisationen üppige Summen erhielten.

Denn als Rohani 2013 ins Amt kam, erbte er von seinem Vorgänger, dem Hardliner Mahmoud Ahmadinejad, nur leere Kassen, obwohl der Ölpreis in dessen acht Amtsjahren auf einem Rekordhoch war. Schätzungsweise 200 Milliarden Dollar sind zwischen 2005 und 2013 spurlos aus dem Staatshaushalt verschwunden. Gleichzeitig schufen sich die Revolutionsgarden ein schwer durchschaubares militärisch-industrielles Imperium, das weite Teile der Wirtschaft kontrolliert und ein Quasimonopol bei lukrativen Staatsaufträgen hat.

Aber auch Irans Hegemoniepolitik im Nahen und Mittleren Osten kostet enorme Summen und geht zulasten der eigenen Bevölkerung, ohne dass diese irgendein Mitspracherecht hat. Im syrischen Bürgerkrieg kämpft die Islamische Republik mit mindestens 10.000 Bewaffneten mit. Die Dollargehälter von Abertausenden irakischen Schiiten, die für Bashar al-Assad kämpfen, werden ebenfalls von Teheran bezahlt. Schätzungsweise 2000 vom Iran entsandte Soldaten sind bisher gefallen, die Hälfte von ihnen hat den Revolutionswächtern angehört. Die andere Hälfte waren zwangsrekrutierte afghanische Flüchtlinge. Und so wundert es nicht, dass Demonstranten auch Bilder des prominenten Generals Qasem Soleimani zerrissen haben (siehe Porträt unten).

Anders als beim letzten Aufbegehren 2009 durch die grüne Bewegung in den Städten beteiligt sich diesmal auch die Landbevölkerung in Dörfern und kleineren Städten an den Protesten. In mehr als der Hälfte des Iran herrscht Wassernotstand, der nach Meinung von Experten, wie dem Ex-Landwirtschaftsminister Issa Kalantari, in den nächsten beiden Jahrzehnten ein Dutzend der 31 Provinzen unbewohnbar machen könnte.

Abwanderung in die Städte

Verheerende Sandstürme gehören zum Alltag, der Grundwasserspiegel sinkt, die Brunnen versiegen. Immer mehr Familien müssen ihre Felder aufgeben. Sie wandern in die Städte ab, an deren Rändern sie fortan ein kümmerliches Slum-Dasein fristen. Zwar hat Rohanis Regierung die Wasserkrise zur innenpolitischen Priorität erhoben, doch eine Trendumkehr ist kostspielig.

Genauso verhält es sich bei den Bürgerrechten und der allgegenwärtigen Bevormundung durch die Moralwächter des Islam. „Ihr benutzt die Religion, und ihr habt das Volk ruiniert“, skandierten die Demonstranten – eine Kritik, die sich an die klerikalen Hardliner und an Rohanis Regierung richtet. Schon in der ersten Amtszeit hatte der Präsident eine Grundrechte-Charta versprochen, die die Willkür der islamischen Herrschaft begrenzen sollte. Im Gegenzug machten die Hardliner in der Justiz mobil. Die Zahl der Hinrichtungen kletterte auf Rekordniveau, politische Aktivisten und sogar Musiker wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt, Zeitungen geschlossen.

„Ich habe keine meiner Versprechen vergessen“, umwarb Rohani vier Jahre später erneut die Menschen in den Wahlkampfarenen. Sie glaubten ihm, verhalfen ihm im Mai 2017 zum zweiten überwältigenden Sieg und wurden wieder enttäuscht. Ein paar Konzerte mehr sind nun erlaubt, auch hält sich die Sittenpolizei bei Partyrazzien mehr zurück. Doch von einer grundsätzlichen Öffnung der Gesellschaft kann keine Rede sein. Die inzwischen veröffentlichte Grundrechte-Charta hat keinerlei Gesetzeskraft. In das neue Kabinett wurde nicht eine einzige Frau berufen. Und vor den Revolutionsgerichten herrscht dieselbe Willkür wie eh und je.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2018)

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