Wissenschafter des Jahres

Stefan Thurner: Wenn es doch nur kompliziert wäre! Es ist aber komplex!

WISSENSCHAFTER DES JAHRES 2017: THURNER
WISSENSCHAFTER DES JAHRES 2017: THURNER(c) APA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)
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Der Komplexitätsforscher Stefan Thurner ist heuer Wissenschafter des Jahres. Mit diesem Ehrentitel zeichnet der Klub der Wissenschafts- und Bildungsjournalisten Wissenschaftler aus, die ihre Arbeit und Befunde auch gut vermitteln können.

Als er 1983 in seine Regierungserklärung einfließen ließ, „dass alles sehr, sehr kompliziert ist“, erntete Fred Sinowatz Spott und Hohn, völlig zu Unrecht – die Dinge sind kompliziert, und manche sind noch mehr als das: komplex. Während es etwa in der Teilchenphysik kompliziert zugehen mag, stehen die Wechselwirkungen der Teilchen doch fest. Biologische und soziale Systeme hingegen werden durch Wechselwirkungen ihrer Mitglieder verändert, die neue Gleichgewichte bringen, neue Ungleichgewichte auch.

Den Gesetzen dieses Wandels geht in Wien ein Forscher nach, der sich in komplizierten und komplexen Systemen auskennt, der 48-jährige Physiker und Ökonom Stefan Thurner, für ihn hat die Med-Uni 2009 eine Professur für die Wissenschaft Komplexer Systeme geschaffen, die er auch in einem Verbund akademischer Institutionen (Complexity Science Hub) betreibt. Und dafür, dass er seine Befunde der Öffentlichkeit gut vermitteln kann, hat ihn am Montag der Klub der Wissenschafts- und Bildungsjournalisten mit dem Titel Wissenschafter des Jahres geehrt (und mit einer Schneekugel, in der die Flocken auf eine stilisierte Eule rieseln).

Diese Vermittlung ist nicht einfach, denn komplexe Systeme gibt es zuhauf – von der Organisation der Landwirtschaft balinesischer Reisbauern über soziale Netzwerke mit ihren auch emotionalen Komponenten bis zur Finanzwirtschaft mit ihren drohenden Kollapsen –, und Daten gibt es noch mehr: „Sie wachsen exponentiell, früher oder später werden wir alles aufzeichnen, was passiert“, erklärte Thurner. „Wir duplizieren die Welt.“ Aber leicht verstehen, geschweige denn gestalten können wir sie nicht: „Wir wissen nicht, wie viel Straßenverkehr es heute Abend in Wien geben wird, wir wissen nicht, wie viele Menschen es im Jahr 2030 geben wird.“ Schlimmer: „Diese Systeme sind unkapierbar.“

Organisation der Ameisen

Noch. Thurners Ziel ist „eine Wissenschaft der Gesellschaft mit naturwissenschaftlicher Präzision“. Bei manchen Gesellschaft ist sie einfach: „Wenn ich eine Ameise hier auf den Tisch setze, geht sie irgendwie herum. Setze ich eine zweite dazu, gehen beide bald im Kreis. Setze ich noch mehr dazu, bilden sie eine gerade Linie.“ So illustriert Thurner, was er in komplexen Systemen am Werk sieht: „Sie bestehen aus Feedback Loops“, bei den Ameisen aus Reaktionen jedes Individuums auf auch von jedem Individuum abgesonderte Düfte.

Komplexer geht es bei Menschen bzw. in den über sie angehäuften Big Data zu, auf sie zielt Thurner, und auch bei ihnen hat er schon Erstaunliches herausgefiltert: „Wir wissen, welche Medikamente alle acht Millionen Österreicher schlucken, wir kennen auch die Krankheitsverläufe.“ In beidem zeigte sich etwa, wie Kombinationen von Medikamenten wirken: „Insulin kann das Krebsrisiko zum Teil massiv erhöhen. Werden aber gleichzeitig auch Statine genommen, kann das protektiv wirken.“

Der Befund hat Folgen für Individuen wie Gesundheitssystem, und darauf zielt Komplexitätsforschung, auf Verhinderung von Katastrophen und planerische Nutzung von Spielräumen: Derzeit erkundet Thurner im Project „Smart Citys“, das alle Bewegungen in Städten auswertet, „wie man am besten auf engem Raum zusammenlebt“.

"Wissenschafter des Jahres"

Der "Wissenschafter des Jahres" wird alljährlich auch vom Office of Science and Technology (OST) an der österreichischen Botschaft in Washington zu einem Vortrag in die USA eingeladen. Als Trophäe gab es heuer erstmals eine Schneekugel aus der Original Wiener Schneekugelmanufaktur mit dem von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im 3D-Druck-Verfahren produzierten Klub-Logo, einer Eule. Die Auszeichnung haben bisher u.a. die Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer (2016), der Archäologe Wolfgang Neubauer (2015), der Weltraumforscher Wolfgang Baumjohann (2014) oder die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter (2013) erhalten.

(APA)

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