"Kulturlosigkeit" und fragwürdige Planungen

Seiß im interview mit salomon
Seiß im interview mit salomon(c) Clemens Fabry
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Raumplaner Reinhard Seiß spricht im Interview mit der "Presse" über Spekulationsobjekte in Wien, Bauen auf der grünen Wiese in Niederösterreich und die - auch ökologisch - teuren Folgen mangelnder Kostentransparenz.

Die Presse: Wovon lebt man eigentlich als Raumplaner in der Stadt Wien, wenn man die Raumplanung der Stadt Wien kritisiert?

Reinhard Seiß: Ich bin zum Glück nicht von öffentlichen Aufträgen abhängig. Und manchmal stelle ich auch Best-practice-Modelle vor.

Ehrlich, so was gibt's auch?

Seiß: Ja, meistens im Ausland (lacht). Es gibt aber auch hierzulande Modellhaftes.

In Wien wird ein Hauptbahnhof ohne eigene U-Bahn-Station gebaut und am Wienerberg entstand ein Hochhausviertel überhaupt ohne echten Verkehrsanschluss. Wie kann so etwas passieren?

Seiß: Indem die Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik ihre eigenen Ziele ignoriert und fachlich fragwürdige Planungen durchboxt. Wie sehr so etwas von den jeweiligen Personen abhängt, zeigt sich im Wohnbauressort. Projekte wie die Wienerberg City wären unter dem aktuellen Wohnbaustadtrat vermutlich nicht mehr möglich (Michael Ludwig folgte Werner Faymann, Anm.). Da herrscht eine neue Denkart, eine andere Kritikfähigkeit.

Vieles ist aber schon passiert und nicht mehr rückgängig zu machen.

Seiß: Stimmt, und das Tragische ist, dass es nicht Einzelfälle sind, sondern vieles auf eine Kulturlosigkeit im Städtebau schließen lässt. Ich bin keiner, der sagt: „Mein Gott, auf keinen Fall Hochhäuser im denkmalgeschützten Wien!“ Aber es gibt einfach ein Maß an Dichte – und das ist natürlich auch mit Höhe verbunden –, das qualitätsvolle öffentliche Räume nicht mehr zulässt, siehe den Nordteil des Hauptbahnhofs. Da wurde nie gefragt: Welchen Städtebau verträgt dieses Viertel, was wollen wir als Planer dort haben, wie können wir Interessen der Investoren und der Allgemeinheit ausgleichen? Nein, die Herangehensweise war: Wie viel Kubatur brauchen wir, damit sich die ÖBB durch den Grundstücksverkauf den neuen Bahnhof leisten können? Renditeerwartungen werden in Baumassen umgesetzt. Das kann nur schiefgehen.

Warum hat man die U-Bahn nicht direkt hingeführt?

Seiß: Weil die Stadt lieber ihre Stadtentwicklungsgebiete wie Aspang und später einmal vielleicht Arsenal durch eine im Zickzack geführte U2 erschließt, obwohl das gar nicht nötig ist. Man braucht nicht überall eine U-Bahn. Zum Beispiel würde am Wienerberg eine leistungsfähige Straßenbahn völlig reichen. Für die Straßenbahn spricht auch, dass sie im Unterschied zur U-Bahn ein Gebiet nicht nur an einem Punkt erschließt und 500 Meter drum herum ist gar nichts, sondern dass man um dasselbe Geld ein engmaschiges Schienennetz über neue Stadtteile legen könnte.

Sie haben grenzwertige Verwicklungen zwischen Stadt, Bauträgern und Immobiliengesellschaften kritisiert. Sind Sie jemals geklagt worden?

Seiß: Nein, weil ich sehr viel Energie darauf verwendet habe, alles rechtlich sicher zu formulieren.

Und hat es etwas bewegt?

Seiß: Es soll im Rathaus schon vorgekommen sein, dass man mit Blick auf mein Buch gesagt hat: „Das können wir jetzt nicht mehr einfach so machen.“ Große Veränderungen gab es aber nicht.

Sind Umwidmungen leichter, wenn man bei zuständigen Stellen im Rathaus mit Geld winkt?

Seiß: Ich glaube, das läuft auf einer kultivierteren Ebene: über das Netzwerk der SPÖ Wien. Für parteinahe Banken, Versicherungen oder Baukonzerne gibt es äußerst attraktive Flächenwidmungen, oft unabhängig von der Gunst des Standorts. So entstanden ganze Stadtteile auf ursprünglich minderwertigen Grundstücken, die mitunter teuer an Wohnbauträger verkauft wurden, obwohl diese gar nicht dort bauen wollten. Man hatte ihnen aber offenbar zu verstehen gegeben, dass ihr Engagement günstig wäre für künftige Projekte, die Wohnbauförderung erhalten sollen. Anders ist etwa der Stadtteil Monte Laa für mich nicht zu erklären. Ein anderes Beispiel ist TownTown in Erdberg: Die Wiener Stadtwerke überbauen als Partner eines privaten Projektentwicklers die U-Bahn und merken dann, dass der Immobilienmarkt diesen Bürostandort nicht braucht. Daher verlegt das Rathaus Teile der Stadtverwaltung dorthin und wird Mieter dieses drittklassigen öffentlich-privaten Spekulationsprojekts.

Eine monofunktionale Geisterstadt ist entstanden.

Seiß: Stimmt. Ohne gestrig zu sein: Wie funktionierte die von allen geschätzte Gründerzeitstadt? Ein Haus hat unten eine Geschäftszone, darüber ein Büro oder eine Kanzlei und nochmals darüber Wohnungen. Die Genehmigung neuer Hochhäuser in Rotterdam ist mittlerweile an die Auflage gebunden, dass es Durchmischung gibt.

Negativbeispiele gibt es auch in Niederösterreich: siehe den Bürocluster Campus 21 bei Brunn.

Seiß: Ein Paradebeispiel für Unplanung! Die einzige Standortqualität ist der Kreuzungspunkt möglichst vieler Autobahnen. Es ist weder mit den Kleinstädten der Umgebung verlinkt noch mit Wien, obwohl er sich Businesspark Wien Süd nennt. Projektträger ist eine rathausnahe Wiener Versicherung, die in diesem Fall aber auf Wien pfeift und suburbane Bürokonkurrenz mitten im Speckgürtel schafft.

Nirgendwo sonst werden auch so viele Shoppingcenter auf die grüne Wiese gesetzt wie in Österreich, oder?

Seiß: Österreich ist innerhalb der EU der absolute Spitzenreiter, was Einkaufsfläche pro Kopf betrifft. Deutschland ist Nummer zwei mit 1,4 Quadratmetern pro Kopf. Wir aber haben 1,9! Die Briten kommen mit nur 0,7 aus.Unter der Überversorgung leiden vor allem die Innenstädte. Dabei gäbe es Instrumente, um solche Großprojekte zu untersagen.

Haben Bürgermeister zu viel Macht?

Seiß: Ich würde sagen, zu viel Spielraum. In Gerasdorf entsteht gerade ein riesiges Einkaufszentrum. Aber für jeden Flächenwidmungsplan gibt es eine Genehmigungspflicht durch die Landesregierung. Dort liegt der eigentliche Verantwortungslosigkeit. Das Land könnte jedes unliebsame Projekt verhindern, wie auf haarsträubende Weise der Fall des Semmeringtunnels gezeigt hat.

Sie sitzen in einem 2009 gegründeten Beirat für Baukultur. Verändert sich etwas zum Besseren?

Seiß: Der Beirat eröffnet die Chance, innerhalb der Verwaltung Bewusstsein für nachhaltige Architektur und Siedlungsentwicklung zu schaffen. Allerdings haben wir in Österreich neun Länder, die Entscheidungen treffen, ohne die Folgekosten zu tragen – sprich Geld ausgeben, das sie nicht selbst einnehmen müssen. Das minimiert jegliches Verantwortungsbewusstsein. Auch wenn es mehr Kostentransparenz gäbe, würde man sich einiges nicht mehr leisten: So bekommt zum Beispiel jedes Einkaufszentrum einen kostenlosen Straßenanschluss.

Was fordern Sie?

Seiß: Zum Beispiel einen funktionierenden öffentlichen Verkehr. In der Schweiz kommt kein Geschäftsreisender, der von Basel nach Bern fährt, auf die Idee, ins Auto zu steigen. In Österreich fährt so jemand mit seinem Dienstwagen von Wien nach Salzburg. Zwischen der zweit- und der drittgrößten Stadt Österreichs, also von Graz nach Linz, gibt es eine Bahnverbindung, die diesen Namen nicht verdient. Die österreichische Bahn wird offenbar von Leuten geführt, denen die Bahn im besten Fall wurscht ist.

Werner Faymann, als Wohnbaustadtrat ihr ehemaliges Feindbild, ist jetzt Kanzler. Ist er jetzt besser?

Seiß: Ich denke, das Amt verändert eine Persönlichkeit nicht so sehr. Davon abgesehen empfinde ich eine weitgehende Abkoppelung der ganzen Regierung von den eigentlichen Sachzwängen. Wie erstarrt ist zum Beispiel unser Gesundheitssystem! Jeder, der eine chronische oder eine psychosomatische Krankheit hatte, weiß, dass dieses System in den Achtzigerjahren stecken geblieben ist. Schauen Sie sich doch an, wie die Wahlärzte boomen! Kassenangebot und Nachfrage klaffen auseinander.

Das scheint auch auf die Schule zuzutreffen. Die Schulgebäude sind auf dem Stand der Monarchie...

Seiß: ...und die Pädagogik auch. Bei den Hauptaufgaben des Staates – zeitgemäße Bildung, leistbare Gesundheit, menschenwürdige Altersversorgung – herrscht fortwährendes Politikversagen. Über all dem steht dann auch noch die katastrophale Ignoranz gegenüber dem Problem der nächsten Generationen: dem Klimawandel.

An den Unis wurde dafür protestiert, dass jeder studieren soll, was er will. Ihre Meinung?

Seiß: Ich sehe das Studium sehr wohl auch als Möglichkeit der Selbstentfaltung. Wenn die Universitäten gute Studienbedingungen für alle bieten, finde ich es vertretbar, wenn dafür sozial verträgliche Gebühren eingehoben werden. Immerhin war ein Kindergartenplatz in Wien bis vor Kurzem deutlich teurer als ein Studienplatz. Dass es seit der Kindergartenpflicht für Fünfjährige zu wenige Betreuungsplätze in dieser Stadt gibt, ist genauso ein politisches Armutszeugnis wie die Zustände an manchen Fakultäten.

Wie geht's der SPÖ in Ihren Augen?

Seiß: Sie will offenbar die bessere Mittelstandspartei sein. Ich weiß nicht, für welche Werte die SPÖ noch steht. Sie tut jedenfalls wenig Substanzielles für die soziale Unterschicht, die heute natürlich in hohem Maß aus Migranten besteht. Gesellschaftlich bezeichnend ist jedenfalls, dass sich bei uns die Krise der Sozialdemokratie dadurch äußert, dass es nicht wie in Deutschland eine Linkspartei gibt, sondern eineinhalb ultrarechte Parteien.

ZUR PERSON

Reinhard Seiß (39) ist Mitglied des neuen Beirats für Baukultur im Bundeskanzleramt sowie der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Der Oberösterreicher studierte Raumplanung an der TU Wien, arbeitet als Stadtplaner, Fachpublizist und Dokumentarfilmer in Wien. Seiß schreibt außerdem für deutsche und österreichische Zeitungen (u.a. für das „Presse-Spectrum“), lehrt und hält Vorträge.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2010)

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