Menschenkenntnis und Menschen kennen

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Management im Kopf: Folge 86. Komplexität und Menschenführung: Sinnvolle und weniger sinnvolle Schemen.

Wie kann man mit komplexen Systemen erfolgreich umgehen? Diese Grundfrage von Führung und Management in der neuen Ära löst Maria Pruckner auf der Basis verlässlicher Erkenntnisse der Systemwissenschaften. Die international anerkannte Pionierin auf diesem Gebiet behandelt in ihrer Kolumne ab Folge 81 Fragen der Menschenführung und empfiehlt dazu außerdem die Orientierung an den Menschenrechten.

Wie würde er oder sie reagieren, wenn man dies oder jenes sagt bzw. tut? Unzählige Male wird diese Frage täglich gestellt; je abhängiger man vom Wohlwollen des gemeinten Gegenübers ist, umso eher und öfter. Sicher wissen kann man es nie. Manchmal kann man sich auf seine Erfahrung verlassen, oft aber auch nicht. Zu viele Einflüsse spielen dabei mit. Der Einfluss, den man mit seinen eigenen Worten und Taten nimmt, ist dabei nur ein winziger. So ist das mit komplexen Verhältnissen. Aber auch für sie gibt es ein verlässliches Schema.

Menschen sind komplexe Systeme

Es sind mehr Reaktionen möglich, als wir uns vorstellen können; aber nicht alle, die möglich sind, treten auch tatsächlich ein und nicht alle sind auch erwünscht. Das ist, in einfachen Worten erklärt, die besondere Charakteristik komplexer Systeme. Aufgrund ihrer Konfiguration und Funktionsweise tragen sie ein höheres Verhaltenspotenzial in sich, als es komplett erfasst, vorhergesagt und beeinflusst werden kann. Auf Menschen und zwischenmenschliche Beziehungen trifft diese Eigenschaft allemal zu. Man muss daher auch im Umgang mit Menschen immer mit Überraschungen und unerwarteten Wendungen rechnen. Wie man Menschen am besten führt, dafür hilft daher - vom Prinzip her - dieselbe Strategie, wie jene, die im Rahmen der Systemwissenschaften für den besten Umgang mit komplexen Systemen an sich entwickelt wurde.

Einfach gestrickt?

Aus reichlicher Erfahrung wird nun so mancher einwenden, er kenne genug Menschen, deren Verhalten bisher immer sicher vorhersagbar war. Ja, das gibt es. Nicht nur bei Menschen, sondern auch bei anderen komplexen Systemen. Aber nur für die Zeit, in der ihre Konfiguration und Funktionsweise einen stabilen Zustand angenommen hat. Man spricht hier von stabilem Eigenverhalten. Von diesem darf man, wenn man erfolgreich sein möchte, allerdings nicht annehmen, dass es ein Dauerzustand ist. Er kann schlagartig verschwinden.

Immer wieder dieselbe Reaktion

Stabiles Eigenverhalten bei Menschen kann im Wesentlichen zwei verschiedene Gründe haben. Der erste Grund ist eine geistige Störung. Dann kann man sagen und tun, was immer man will, als Reaktion kommt dann zum Beispiel immer: „Grüß Gott, ich bin Jesus und gekommen, um dich zu heilen.“ Der zweite und viel häufigere Grund sind Verhaltensschemen, die sich jemand angewöhnt oder für die sich jemand bewusst entschieden hat. Hier geht es um soziale bzw. kulturelle Prägungen. Es gibt zum Beispiel Menschen, die über lange Zeit jeden Konflikt vermeiden, sie lassen sich auf keinen Streit ein. Ein anderes Beispiel sind Menschen, die immer, wenn etwas unerwünscht in Brand gerät, das Feuer löschen bzw. die Feuerwehr rufen.

Immer wieder dieselbe Erklärung

Manche Menschen husten immer zuerst einmal, bevor sie etwas sagen. Manche wegen einer chronischen Erkrankung ihrer Atemwege, andere wegen Stress, Verlegenheit oder anderen Gründen. Dieselben Verhaltensmuster haben keinesfalls immer dieselben Auslöser. Freundlichkeit etwa muss keinesfalls immer mit Wohlwollen zu tun haben, es können auch bösartigste Antriebe dahinter stecken. Einer der häufigsten Fehler in der Menschenführung ist, zu glauben, „die eine Ursache“ für ein bestimmtes Verhalten von jemanden zu kennen. Es gibt nie nur eine einzige Ursache und es ist nicht immer dieselbe.

Überraschung

„Mein Chef war immer total nett zu mir. Ich war mir daher meines Jobs völlig sicher. Ich hielt meinen Arbeitsplatz auch noch für sicher, nachdem mir mein Chef gekündigt hatte. Ich habe es einfach nicht zur Kenntnis genommen. Erst meine Frau zeigte mir meine Illusion auf, nachdem sie zu Hause das Kündigungsschreiben fand...“ So in etwa die Anfrage für ein Coaching, das mich vor einigen Monaten erreichte. In diesem Fall trafen zwei Menschen mit höchst stabilem Eigenverhalten aufeinander: Ein Chef, der immer nett war und ein Mitarbeiter, der dessen Freundlichkeit immer mit seiner Arbeitsplatzsicherheit gleichsetzte. Dieses Beispiel soll zeigen, stabiles Eigenverhalten ist nicht immer von Vorteil.

Gute Bekannte

Eines Tages begleitete mich ein Manager, mit dem ich viel zu tun hatte, zum ersten Mal zu einer Besprechung mit einem Systemwissenschaftler, mit dem ich ebenfalls schon sehr lange zusammenarbeite. Der Professor und ich unterhielten uns der Eile halber in unserer eigenen Manier. Der Manager hörte nur etwas entgeistert zu, es gelang uns nicht, ihn ins Gespräch einzubinden. Er tat, als wäre ihm unser Thema völlig fremd. Später im Lift fragte ich ihn: „Was ist los? Weshalb hast du kaum etwas gesagt?!“ Er starrte mich an wie ein Blinder, also mehr in sich hinein, als aus sich heraus. „Ich dachte, ich kenne dich!“, rief er dann, „aber in diesem Gespräch warst du ein völlig anderer Mensch! Ich kenne dich gar nicht!“ Ich schwieg. Nach einer Weile wandte er sich vehement an mich: „Wie viele Leute zeigen mir von sich nur das, womit ich gut umgehen kann…? Und vor allem: Wie gut müssen diese Menschen mich kennen, während ich sie überhaupt nicht kenne?!“

(V)erkennbar

Viele Menschen verhalten sich anderen gegenüber höchst individuell. Sie sprechen jeweils die Sprache ihres Gegenübers, behandeln die einen kooperativ und freundlich, andere herzlich,  abweisend, streng oder ignorant, andere neugierig, ausgesprochen humorvoll oder mit größtem Respekt und ausgesprochener Höflichkeit. Solche Menschen nennt man oft treffend „Chamäleons“. Sie tragen ein sehr hohes Verhaltenspotenzial in sich und können ihr Verhalten schlagartig verändern. Einerseits, weil sie sich viele verschiedene Fähigkeiten angeeignet haben, andererseits agieren sie mit der Einstellung, anderen von sich selbst jeweils nur das zuzumuten, was diese gerade brauchen bzw. vertragen. Wer, sinnbildlich gesprochen, selbst grün ist, wird diese Chamäleons daher immer nur grün erleben, obwohl sie gegenüber anderen rot, blau, orange oder bunt sind. Wer dem Typ Chamäleon entspricht, wird häufig falsch eingeschätzt.

Den oder die kenne ich gut… (?!)

Es ist heute große Mode, möglichst viele Leute gut zu kennen, je prominenter die Persönlichkeiten, die man kennt, umso besser. Besonders in digitalen Netzwerken werden aus diesem Zweck möglichst viele Kontakte geknüpft, obwohl man gar nicht vorhat, mit diesen Personen auch nur ein einziges Mal ernsthaft zu interagieren oder gar zu kooperieren. Wer ein bisschen Ahnung von Menschen und vom Menschsein hat, meint hingegen eher, weder sich selbst noch andere wirklich gut zu kennen. Solche Menschen studieren das Menschsein und die Individuen, mit denen sie befasst sind, ein Leben lang. Das nämlich ist die grundlegende Voraussetzung für gelungene Menschenführung: Sich auf die Vielfalt und Variabilität von Menschen einzustellen.

Ashbys Gesetz

Ein Feuer zu löschen, wenn etwas in Brand geraten ist, was nicht verbrennen soll, wird immer gut sein. Solche trivialen Probleme lassen sich immer wieder mit demselben einfachen Schema lösen. Doch auch für die Menschenführung und alle anderen komplexen Angelegenheiten gibt es ein Schema, das so gut wie immer klappt. Es muss bloß zwangsläufig weitaus komplexer sein. Komplexe Systeme sind Systeme, die sehr viel Verschiedenes können. Der erfolgreiche Umgang mit ihnen verlangt daher, mindestens ebenso viel zu können wie sie. Ein immer wieder verlässliches Schema für das Lösen komplexer Probleme kennen wir dank der Kybernetik. Es ist ein Komplex aus Designprinzipien (ursprünglich nannte man sie kybernetische Gesetze) der erfüllt sein muss. Eines von mehreren Prinzipien ist Ashbys Gesetz: „Je mehr verschiedene (!) Möglichkeiten ein System zum Steuern und Regulieren hat, desto mehr Störungen wird es ausgleichen bzw. kompensieren können.“ Die oben geschilderten Chamäleons sind hier also eindeutig im Vorteil. Ihr Nachteil ist, dass man sie häufig verkennt. Das aber ist vor allem ein Nachteil für jene, die sie verkennen. Er lässt sich aber leicht aushebeln, indem man sich abgewöhnt, sich von Menschen ein fixes Bild zu machen und sich das Verhalten von Menschen zu trivial zu erklären.

Es kommt auf die Schemata an

So wie einzelne Menschen eine gewisse Zeit in vergleichbaren Situationen immer dasselbe tun können, können das alle komplexen Systeme, also auch ganze Unternehmen, Betriebe oder Institutionen. Die einen reagieren dann auf alles immer schneller und besser als andere, andere schaffen ihre Anforderungen immer nur mit Ach und Krach, andere bringen immer wieder dieselben Lösungen hervor, obwohl sich ihre Probleme längst geändert haben. Dahinter stecken im nicht geringen Maß die Schemata, die von den einzelnen Menschen eingesetzt werden. Valide Schemen, die im Rahmen der Systemwissenschaften erforscht wurden, erweisen sich in allen komplexen Situationen (bzw. je nach Theorie in einer bestimmten Art komplexer Systeme) als verlässlich. Sie folgen immer denselben Prinzipien, die Lösungen unterscheiden sich nur in ihrer konkreten Umsetzung. Nichts also gegen Schemen an sich, es kommt bloß darauf an, welche man kennt und wählt.

Schreiben Sie Ihre Frage zum Umgang mit Komplexität in Führungs- und Managementaufgaben an Maria Pruckner. Sie wird darauf eingehen.

Maria Pruckner. Die selbstständige Beraterin, Trainerin und Autorin ist seit 1992 auf den professionellen Umgang mit hoher Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Institutionen spezialisiert. Seither entwickelt sie für diesen Zweck verlässliche kybernetische System-Modelle, die sie mit einem systematischen Anwendertraining verbindet. Damit gehört sie auf ihrem Gebiet weltweit zu den am längsten dienenden Pionieren und Problemlösern in der Praxis. Die langjährige Schülerin von Heinz von Foerster arbeitet seit damals stark vernetzt und konsequent mit international führenden Experten aus Wissenschaft und Praxis. Ihr Unternehmenssitz ist in Wien.

Mehr unter www.mariapruckner.com

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