Die Herzen der Europäer seien "offen". Doch das Angebot von EU-Kommissionspräsident Juncker und EU-Ratspräsident Tusk zum Verbleib in der EU, stößt bei der britischen Regierung auf Ablehnung.
Gibt es einen Exit vom Brexit? Im Zuge der letztjährigen Verhandlungen über die Modalitäten der britisch-europäischen Scheidung war diese fundamentale Frage untergegangen. Doch seit einigen Tagen macht man sich in Brüssel und London wieder ernsthaft Gedanken darüber, ob der bei einem Referendum im Juni 2016 beschlossene Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union wirklich definitiv zu sein hat. Die britische Regierung hält offiziell allerdings an ihrem Brexit-Kurs fest.
Die jüngste Wortmeldung stammt von der Doppelspitze der EU: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk. Bei ihrem Auftritt im Straßburger Plenum des Europaparlaments am gestrigen Dienstag brachten die beiden Präsidenten die Möglichkeit eines Rücktritts vom Brexit wieder ins Spiel. „Unsere Tür bleibt immer offen. Ich hoffe, dass diese Botschaft in London vernommen wird“, sagte Juncker, während Tusk zuvor per Twitter wissen ließ, dass die Herzen der Europäer nach wie vor „offen“ seien – „der Brexit mit all seinen negativen Konsequenzen wird kommen, sofern unsere britischen Freunde nicht ihre Meinung ändern“.
Der Zeitpunkt der Intervention deutet darauf hin, dass es hinter den Kulissen der Brexit-Verhandlungen ernsthafte Schwierigkeiten auf der britischen Seite zu geben scheint. Überspitzt formuliert schlägt für die britische Premierministerin Theresa May nun die Stunde der Wahrheit. Bis dato konnte sich May auf die Modalitäten des Brexit konzentrieren und Fragen nach dem zukünftigen Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU beiseite wischen bzw. mit nichtssagenden Phrasen à la „Brexit heißt Brexit“ beantworten. Diesen Luxus hat die Premierministerin nicht mehr: In den kommenden Wochen soll die britische Regierung erstmals konkretisieren, wie sie sich ihre Zukunft außerhalb der EU vorstellt – und für diesen Offenbarungseid ist man in London schlicht und ergreifend nicht vorbereitet.
Die Regierung in London reagiert allerdings mit deutlicher Ablehnung auf das Angebot aus Brüssel. Ein Sprecher von Premierministerin Theresa May schloss am Dienstag ein zweites Brexit-Referendum aus: "Die Briten haben für einen Austritt aus der EU gestimmt, und das werden wir tun."
Das geringere Übel
Das Brexit-Referendum wurde unter der Prämisse erfolgreich geschlagen, dass die Briten nach dem EU-Austritt weiter alle Vorteile des Binnenmarkts genießen könnten, ohne lästige Nachteile wie die Personenfreizügigkeit in Kauf nehmen zu müssen. Nun muss May den Briten erklären, dass diese Hoffnungen eine Illusion waren. Aus der europäischen Perspektive betrachtet, liegt der Sachverhalt klar auf der Hand: Großbritannien hat die Wahl zwischen dem Modell Kanada – also einem Freihandelsabkommen, dass nur für Waren gilt, nicht aber für die Briten so essenziellen Dienstleistungen – und dem Modell Norwegen – also der Teilhabe am Binnenmarkt, allerdings ohne Mitsprache bei dessen Weitergestaltung. Die Kanada-Variante kommt für die Briten aus wirtschaftlichen Gründen, die Norwegen-Variante wiederum aus politischen Gründen nicht infrage.
Und es kommt noch schlimmer: De facto haben die Briten nur die Wahl zwischen Norwegen und einem „harten“ Brexit ohne gegenseitiges Einvernehmen. Denn um den Friedensprozess in Nordirland nicht zu gefährden, haben sich die Briten im Dezember dazu verpflichtet, die aus dem Karfreitagsabkommen von 1998 resultierende wirtschaftliche Verflechtung zwischen dem katholisch-protestantischen Landesteil Nordirland und der katholischen Republik Irland aufrecht zu erhalten – und das geht nur, wenn die Grenze zwischen EU und Großbritannien durch die Irische See verläuft. Das würde allerdings bedeuten, dass Nordirland Teil des EU-Binnenmarkts bleibt und sich vom britischen Markt löst – was wiederum für Mays nordirische Koalitionspartner DUP nicht infrage kommt. Das Dilemma lässt sich nur dann lösen, wenn Großbritannien als Ganzes – wie Norwegen – an den Binnenmarkt der EU gekoppelt bleibt.
Wendehals Nigel Farage
Dass den Briten zum Zeitpunkt des Brexit-Referendums bewusst war, wie eingeschränkt ihre Optionen sein werden, darf angesichts der von den Austrittsbefürwortern verbreiteten Unwahrheiten angezweifelt werden. Der Erste, der das erkannt hat, ist ausgerechnet der Hardcore-Europafeind Nigel Farage, der Langzeit-Europaabgeordnete und ehemalige Chef der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP). Vergangene Woche brachte Farage die Möglichkeit eines zweiten Brexit-Referendums ins Spiel. Zwar will der Brexit-Cheerleader damit nach eigenen Worten die anhaltende Debatte über den Ausstieg „abtöten“ und erwartet bei einem neuerlichen Votum eine noch deutlichere Zustimmung zum Brexit, doch das überraschende Zugeständnis lässt sich auch auf eine andere Art interpretieren: Farage geht davon aus, dass die Briten gegen den Austritt stimmen werden, sobald sie die Konsequenzen des Brexit kennen, und will seine langjährige Karriere als oberster Europafeind im Europaparlament fortsetzen.
(la/Red.)