Doris Uhlich: „Ich frage mich, was wir von einem Frosch lernen können“

Bewegungsarchäologin. Doris Uhlich sucht – und findet – den „körpereigenen Treibstoff“.
Bewegungsarchäologin. Doris Uhlich sucht – und findet – den „körpereigenen Treibstoff“.(c) Carolina Frank
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Das tänzerische Potenzial erkunden: Mit ihrem Stück „Every Body Electric“ eröffnet Doris Uhlich das Tanzquartier in Wien.

Wer von der zeitgenössischen Tanz- und Performanceszene spricht, kommt an Doris Uhlich nicht vorbei. Die umtriebige Choreografin und Performancekünstlerin mit einer Vorliebe fürs Nonkonforme ist vom Shootingstar zum Fixstern geworden. Ihr neues Stück, „Every Body Electric“, in dem ausschließlich Menschen mit physischer Beeinträchtigung mitwirken, eröffnet diese Woche das Tanzquartier in Wien, das sich nach einer Renovierung unter der neuen künstlerischen Leiterin Bettina Kogler neu positionieren will. Uhlich hat für diese Performance nach dem tänzerischen Potenzial geforscht, das in jedem Menschen schlummert – im Interview nennt sie es „eine Archäologie von Energie“. Und sie erzählt, womit sie sich als Nächstes beschäftigen will: mit dem „Säugetier Mensch“.

Sie haben mit Michael Turinsky für „Ravemachine“ einen Nes­troy-Preis bekommen. Wie wichtig ist so ein Erfolg?
Es ist eine schöne Anerkennung. Meine Arbeit bekommt dadurch eine Art von Leuchten, Ausbreitung – der Nestroy ist ja auch golden und leuchtet – und eine Sichtbarkeit in der Theaterwelt, die eine andere ist als die Tanzperformance-Szene. Erfolg baut auf. Ich frage mich manchmal: Wie ist denn das gegangen? Ich bin mit 19 Jahren vom Attersee nach Wien gekommen und bei der Aufnahmeprüfung am Konservatorium durchgefallen. Ich habe ein Jahr lang in den Startlöchern scharren müssen. Und 20 Jahre später sitze ich hier, gebe Interviews und bekomme einen Nestroy-Preis. Der Erfolg ermöglicht mir, dass ich meine Arbeit machen kann. Erfolg öffnet Türen. Und er bringt Leute, die sich meine Arbeiten anschauen, mit denen ich diskutieren kann. Meine Arbeit wird über diesen Austausch lebendig.


Wie gehen Sie mit Erfolgsdruck um?
Ich empfinde selten Erfolgsdruck – aber ich habe eine große Erwartungshaltung mir selbst gegenüber. Sobald der Gedanke kommt: „Hoffentlich wird die nächste Arbeit gut“, erinnere ich mich: „Doris, lebe in der Gegenwart. Mach, was dich interessiert.“ Das Leben kann jeden Moment enden. Es ist alles so fragil. Ich habe durch den plötzlichen Tod meines Vaters, der an einem Herzinfarkt gestorben ist, als ich 21 war, erfahren, wie schnell alles vorbei sein kann.

Körperarbeit. Uhlich entwickelt mit allen Tänzern ihre persönlichen Energietanzschritte.
Körperarbeit. Uhlich entwickelt mit allen Tänzern ihre persönlichen Energietanzschritte.(c) Ulrich A. Reiterer

Sie sind viel unterwegs – Tel Aviv, Athen, Montreal, Berlin, Santarcangelo. Was macht das mit Ihnen?
Es bringt eine Menge Energie. Ich finde es toll, wenn man die Arbeit in einer anderen Stadt teilen kann. Und wenn ich an einen Ort wieder eingeladen werde und performe, merkt man, dass die vergangene Arbeit Wellen geschlagen hat. Es wächst auch das internationale Publikum. Ich mag das Fortfahren. Nur Kofferpacken tue ich noch immer nicht gern.


Wo sind Ihre Rückzugsorte, an denen Sie Kraft tanken?
Ich gehe gern ins Kino. Ich tauche sehr gern in Filme ab. Und in meine Badewanne. Und dann sind da die Kinder meiner Schwester. Mit ihnen zu spielen, Zeit zu verbringen, das kann auch anstrengend sein, aber es ist schon etwas, wobei ich auftanken kann, weil es da um etwas ganz anderes geht und man den Kopf freikriegt. Und zwischendurch fahre ich immer wieder gern an den Attersee – das ist für mich eine Traumlandschaft.


Wäre es nicht interessant, zeitgenössische Tanzperformances raus aus der Stadt und in den ländlichen Raum zu bringen?
Es kommen keine Einladungen von dort. Das müsste ich schon selbst initiieren. Aber prinzipiell fände ich es sehr spannend, den urbanen Kontext zu verlassen. Interessanterweise habe ich ein Projekt im Hinterkopf, das in der Natur spielen könnte, wo man die Landschaft für die Arbeit sogar braucht . . .


Was schwebt Ihnen da vor?
Der Mensch ist ja ein Säugetier – das Tier steckt also in uns. Mich interessiert: Kann man von der Tier- und Pflanzenwelt Bewegungen oder bestimmte Instinkte lernen? Wie kann man den Körper über Motive aus der Tier- und Pflanzenwelt erweitern? Ich frage mich zum Beispiel, was wir von einem Frosch lernen können. Ich habe mich mit Baumpflegern getroffen und dann im Sommer am Attersee ganz neue Erlebnisse gehabt. Auf einmal habe ich die Bewegungen in jedem Baum gesehen und mir gedacht: Wow, in dem Baumstamm geht aber die Post ab! Aber meistens nehmen wir das nicht wahr, weil wir ins Handy schauen oder uns auf etwas anderes konzentrieren. Wir haben ja einen sehr anthropozentrischen Blick auf die Welt – der Mensch steht im Mittelpunkt. Wenn ich mir aber klarmache, dass ich nicht das einzige Lebewesen bin, das zählt, dann eröffnet sich etwas Neues, dann wird etwas in mir weicher.


Sie eröffnen Ende Jänner das Tanzquartier mit „Every Body Electric“. Da machen ausschließlich Leute mit, die physisch beeinträchtigt sind. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Ich habe im Zuge der Uraufführung von „Ravemachine“ einen Workshop für Menschen mit physischen Behinderungen gegeben. Der war so toll, dass wir im Anschluss an „Ravemachine“ ein kurzes Showing gezeigt haben. Daraus ist die Idee entstanden. Ich war fasziniert, dass auch eine minimale Bewegung vehement sein kann.

Ensembleprojekt. Neun Menschen mit physischer Beeinträchtigung treten bei „Every Body Electric“ auf.
Ensembleprojekt. Neun Menschen mit physischer Beeinträchtigung treten bei „Every Body Electric“ auf.(c) Ulrich A. Reiterer

Was erwartet das Publikum bei „Every Body Electric“?
Es ist ein Ensembleprojekt mit neun Menschen mit physischen Behinderungen. Wir forschen nach dem tänzerischen Potenzial, das in jeder Person schlummert und sich in persönlichen „Energietanzschritten“ artikuliert. Diese „Energietanzschritte“ nenne ich „Energetic Icons“. Eine Archäologie von Energie wird betrieben. Individuelle Dynamiken, Körpereigenschaften, Beats und fleischliche Freuden führen zu persönlichen Tanzstilen, die den Körper über das Wiederholen energetisch aufladen. Bewegung wird dann zu einer Art körpereigenem Treibstoff.


Haben Sie mit den Performern Ihres Stücks über deren Lebensgeschichte gesprochen?
Alle sind behindert, manche seit der Geburt. Einer sitzt im Rollstuhl, weil ihm ein Baum draufgefallen ist, als er 14 war. Es sind sehr unterschiedliche Biografien. Im Probenprozess war das kein Thema. Aber ich war neugierig und habe einfach gefragt. Die Leute teilen das auch gern mit, erzählen von ihren Erfahrungen und Erlebnissen. Bei „Every Body Electric“ geht es für sie darum, mit dem Körper zu arbeiten, den sie nun haben. Der Körper ist unser Zuhause. Welche Energie steckt in ihm, welcher persönliche Tanzstil? Wir betreiben da eine sehr ernsthafte, präzise Bewegungsrecherche. Es ist ein kraftvolles, teilweise zartes, progressives Stück.


Wie verhindern Sie, dass das ein Zurschaustellen wird?
Es geht eben nicht um die Behinderung. Es geht um den Menschen und seinen bzw. ihren individuellen Körper, der eine persönliche Artikulation findet. Ich habe als Choreografin immer schon mit nicht konformen Körpern gearbeitet – mit ehemaligen Balletttänzern, mit meiner Mutter, mit älteren Menschen. Diesmal ist es ein Ensemble ausschließlich aus Menschen mit physischer Behinderung. Eine Gruppe aus behinderten und nicht behinderten Menschen erzeugt oft einen normativen, vergleichenden Zuschauerblick: Wer ist behindert, wer nicht? Der ist jetzt überhaupt nicht da, sondern es geht um die Qualitäten, Präsenzen, Stärken. Es geht um die Beziehung Mensch–Rollstuhl–Krücke, um die Frage, welche Körpererweiterung z. B. ein Rollstuhl ist. Wir haben uns Zeit genommen, in der Bewegung gemeinsam auf Neuland zu stoßen.


Für viele Menschen ist Behinderung noch immer ein Tabu. Oft wissen sie nicht, wie sie mit Betroffenen umgehen sollen.
Wenn ich nicht weiß, ob ich jemandem helfen soll, oder ich unsicher bin, ob es jemandem unangenehm ist, wenn ich beim Essen helfe oder die Tür aufhalte, dann frage ich einfach. Ich habe ja keine Behinderung und kann mir gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. Aber ich kann mir Zeit nehmen und es mir erzählen lassen.


Diesmal stehen Sie nicht selbst auf der Bühne.
Ja, ich choreografiere „von draußen“ und bin nicht die Interpretin meiner Arbeit. Ich genieße es, dieses Mal meine Arbeit anschauen zu können. Das ist, wenn man selbst tanzt, in der Art nicht möglich. Ich arbeite gern mit Ensembles. Das Leben ist kein Solo, es ist ein Ensemblewerk – allein geht nicht so viel weiter wie miteinander. Es wird aber bestimmt wieder ein Projekt geben, wo ich performe. Ich bin gern auf der Bühne, im Dialog mit den Zuschauern.

Tipp

TQW-Neueröffnung: 25.–27. 1., u. a. mit Doris Uhlich, Tamara Cubas, Julius Deutschbauer, Mark Tompkins, Alexandra Pirici, Ankathie Koi. www.tqw.at

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