65 Jahre Befreiung: Auschwitz-Gedenkstätte droht Verfall

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Ein großer Gedenkakt wird am Gelände des früheren Vernichtungslagers abgehalten. Der Auschwitz-Rat fordert einen europäischen Fonds, der Geld zur weiteren Erhaltung der baufälligen Anlage bereitstellen soll.

Auschwitz. Kalt ist es, sehr kalt. Der Schnee knirscht beim Gehen unter den Schuhen. Dick vermummte Menschen bleiben am Eingang kurz stehen, zeigen auf das Schild über ihren Köpfen, einige zücken ihre Fotoapparate, machen schnell ein Bild. „Arbeit macht frei“, prangt über ihren Köpfen. „Es ist eine Kopie“, erklärt eine Reiseführerin, „das Original muss restauriert werden.“

Dann erzählt sie in Kurzform die jüngste Odyssee des Schriftzugs. Dreiste Diebe haben das fünf Meter breite Metallteil in einer Nacht gestohlen, mit Gewalt aus der Halterung gerissen. Doch schon nach einigen Tagen wurden die Männer gefasst. Ein schwedischer Neonazi soll der Auftraggeber gewesen sein. Aufgrund einer Verfahrenspanne konnte er aber noch nicht festgenommen werden.

Nun bemühen sich Restauratoren, den Schriftzug zu reparieren. Bis heute, Mittwoch, haben sie es aber nicht geschafft. Auch die hohen Gäste, die nach Auschwitz kommen, um den 65.Jahrestag der Befreiung des Lagers zu begehen, werden unter der Kopie hindurchgehen müssen.

Der internationale Aufschrei nach dem Diebstahl hat deutlich gemacht, welchen Stellenwert das Konzentrationslager über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende im historischen Gedächtnis der Menschheit einnimmt. Auschwitz ist das Synonym für den Massenmord der Nazis, die industrielle Vernichtung von Leben. Angesichts dieser Tatsache scheint es geradezu aberwitzig, dass dem schon 1947 zum Museum umgewandelten Komplex der Zerfall droht.

Millioneninvestition benötigt

Nicht Unwille oder Nachlässigkeit, sondern Geldmangel setzt dem Erbe zu. Über 100 Mio. Euro müssten in den kommenden 20 Jahren investiert werden, schätzt Piotr Cywinsk, Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Über Jahrzehnte wurde der Komplex vor allem vom polnischen Staat finanziert. Über drei Mio. Euro kommen jedes Jahr aus Warschau, dazu noch einmal dieselbe Summe durch Einnahmen aus Bücherverkäufen und Führungen.

Diese Summe reicht nicht mehr, um dem fortschreitenden Verfall Einhalt zu gebieten. An den Ruinen der Gaskammern und der Baracken nagen Regen, Frost und vor allem das Grundwasser.

„Wenn wir nicht jetzt grundlegende Konservierungsmaßnahmen beginnen, wird man uns vorwerfen, dieses Weltsymbol des Holocaust zerstört zu haben“, warnt Wladyslaw Bartoszewski, selbst einst Lagerhäftling, über Jahre Polens Außenminister und heute Vorsitzender des Internationalen Auschwitzrates. Allein die Besucherzahlen zeigten, wie wichtig die Gedenkstätte sei, sagt der 85-Jährige. Im Vorjahr besichtigten über 1,3 Millionen Besucher das ehemalige KZ, darunter 800.000 Jugendliche.

Vor einigen Monaten wurde vom Internationalen Auschwitzrat die Idee geboren, einen Fonds einzurichten. Nicht nur die polnische Regierung, sondern auch die EU-Partner sollten sich an der Erhaltung beteiligen. Bartoszewski erinnert daran, dass das Lager auf der Liste des Weltkulturerbes der Unesco steht und darin Menschen aus vielen Ländern Europas ermordet worden sind. 120 Millionen Euro müssten im Fonds gesammelt werden. Die Hilfsbereitschaft der Staaten hält sich angesichts der Wirtschaftskrise allerdings in Grenzen.

„Nicht über Tragödie definieren“

Es gibt aber auch eine andere Perspektive der jüdischen Geschichte in Polen. So kämpft die kleine jüdische Gemeinde ums Überleben. Manchem ihrer Mitglieder ist die Fokussierung auf das Leid während des Holocaust zu einseitig. Die meisten Juden aus Übersee besuchen Polen nur, um kurz nach Auschwitz zu fahren und dann ihre Reise durch das andere, schöne Europa fortzusetzen.

Um attraktiv und überlebensfähig zu werden, dürfe man sich nicht nur „über die Tragödie definieren“, sagt Jonathan Ornstein, Direktor des Zentrums der Jüdischen Gemeinde in Krakau. Diese will er wieder aufbauen und als lebendige Gemeinschaft darstellen.

AUF EINEN BLICK

Am 27.Jänner 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz durch sowjetische Truppen befreit. Zu den Feierlichkeiten anlässlich des 65.Jahrestags reist Israels Ministerpräsident Netanjahu nach Auschwitz. Österreich ist durch Nationalratspräsidentin Barbara Prammer vertreten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2010)

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