Krankenversicherung

Hilfe ohne Krankenschein

(c) Nadja Meister
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von Ornella Luna Wächter

Zwischen 60.000 und 80.000 Menschen in Österreich sind nicht krankenversichert.

Es ist 10 Uhr morgens, das Wartezimmer von Ambermed ist brechend voll. Etwa 50 Männer und Frauen, darunter viele Paare, haben auf den Holzstühlen Platz genommen. Es ist warm und stickig. Man wartet. Eine junge Frau mit dunklen lockigen Haaren hat ihren Kopf auf den Schoß ihres Partners gebettet und wischt gelangweilt über Display ihres Smartphones. Sie ist schwanger. Bis das junge Paar ins Behandlungszimmer des Frauenarztes gerufen wird, kann es noch dauern.

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Ambermed, eine Einrichtung der Diakonie und des Österreichischen Roten Kreuzes, bietet Menschen ohne Krankenversicherung kostenlos eine ambulant-medizinische Versorgung an. Um dort eine Behandlung zu bekommen, müssen die Patienten an den südlichen Stadtrand Wiens fahren, in die Oberlaaer Straße 300. „Wir haben nur einen kleinen Prozentsatz an österreichischen Patienten, der größte Teil sind Menschen mit Migrationshintergrund. Ein Drittel davon sind Asylwerber, die noch nicht in Grundversorgung sind. Der größte Teil sind Migranten aus anderen EU-Ländern oder Drittstaaten“, zählt Carina Spak, die Leiterin bei Ambermed, auf.

Versicherung ist kein Grundrecht

Ursachen für eine fehlende Krankenversicherung gibt es viele. Es ist ein Mix aus Unwissenheit, Scham vor Behördengängen und fehlender Anspruchsberechtigung. Denn in Österreich ist die Gesundheitsversicherung stark an Einkommen und Vermögen gekoppelt. So sind Arbeitslose nur versichert, die Arbeitslosengeld beziehen, oder über die Mindestsicherung.

Wer nicht über den Arbeitgeber bei einer der 19 gesetzlichen Krankenkassen versichert ist, muss es privat machen. Im Jahr 2016 waren in Österreich nach Angaben der Österreichischen Sozialversicherung (SVA) über sieben Millionen Menschen gesetzlich krankenversichert.

Einige der Patienten kommen nur kurzfristig zu Ambermed, um ihre Zeit ohne Gesundheitsversicherung zu überbrücken. Das betrifft etwa Auslandsösterreicher, die zurückkommen und noch keinen Anspruch auf eine Versicherung haben. Daneben gibt es eine Vielzahl von Patienten, die Ambermed aufsuchen, weil sie sich trotz Arbeit keine Krankenversicherung leisten können. Neben Menschen mit geringfügigen Einkommen sitzen also ehemalige Unternehmer, die in Konkurs geraten sind, oder Studenten, die ihre Zahlungen verabsäumt haben.

Eine andere große Gruppe sind alleinerziehende Frauen, die seit ihrer Scheidung nicht mehr bei ihren Ehegatten mitversichert sind. Auch Obdachlose fallen in die Zahlen der nicht-versicherten Personen in Österreich. Diese gehen jedoch vorwiegend in die Ordination des Neunerhauses und in das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, die speziell Behandlungen für Wohnungslose anbieten.

Kostenlose Ambulanzen gibt es in ganz Österreich. Allerdings zeigt sich laut Sozialexperte Martin Schenk ein Ost-West-Gefälle. Das bedeutet: Im Osten gibt es Einrichtungen vor allem in den Hauptstädten Wien, Graz und Linz. „Im Westen ist die Versorgung schlechter“, meint der Experte. Dort seien es oft Privatpersonen, die Hilfe anbieten würden.

Wachsende soziale Ungleichheit

Seit der Einführung der Grundsicherung dürften die Zahlen auf 60.000 bis 80.000 Betroffene gesunken sein. "Die Asylkoordination hat die Zahl von den ursprünglich 100.000 Nicht-Versicherten heruntergestuft", sagen Schenk und Spak. Vor allem die Zahl von österreichischen Staatsbürgern sei weniger geworden.

Allerdings: Obwohl die Zahl der Nicht-Versicherten zurückgegangen ist, behandeln die Ärzte bei Ambermed immer mehr Patienten. Während es im Jahr 2012 noch 1592 Menschen waren, stieg die Zahl 2016 auf insgesamt 3517 an. Spak führt diese Zunahmen auf die gestiegene Bekanntheit der Einrichtung zurück. Schenk hingegen führt eine wachsende soziale Ungleichheit in Österreich als ausschlaggebend an. Als Begel hierfür nennt er einer Studie aus dem Jahr 2015 über Lücken und Barrieren im österreichischen Gesundheitssystem. „Zwar sinkt die Zahl insgesamt, aber innerhalb der Gruppen gibt es trotzdem Verschiebungen. Asylwerber oder Migranten aus dem EU-Ausland kommen nun durch die Grundsicherung in das Gesundheitssystem", sagt der Sozialexperte.

Nadja Meister

Am österreichischen Arbeitsmarkt gebe es immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse und schlecht bezahlte Arbeit, so Schenk, der gerade an in einer Neufassung der Studie arbeitet, die im Laufe des nächsten Jahres veröffentlicht werden soll. Viele der prekär Arbeitenden sind damit nur temporär krankenversichert oder können sich den Beitrag von rund 50 Euro im Monat schlicht nicht leisten.

Spak weist auf ein weiteres Problem hin: Sie erzählt von Patienten, die von ihrem Arbeitgeber an einem Tag angemeldet und am nächsten Tag wieder abgemeldet wurden: „Dann wissen sie oft gar nicht, dass sie gar nicht mehr versichert sind.“

Armut macht krank, Krankheit macht arm

Laut Schenks Studie von 2015 werden gerade Menschen aus unteren sozialen Schichten häufiger krank als der Rest der Bevölkerung. Wer keiner Arbeit nachgeht oder nur sehr unregelmäßig, hat Schwierigkeiten gesund zu bleiben. Demnach geben 56 Prozent mit keinem oder sehr niedrigem Einkommen an, an einer chronischen Krankheit zu leiden. Bei Personen, die Sozialleistungen beziehen, sind es 54 Prozent. „Armut macht krank“, lautet Schenks Fazit. Das liege nicht nur am fehlenden Geld, sondern auch an den damit verbundenen Ressourcen.

Schenks Erhebungen zeigen: Wer in schimmeligen Wohnungen lebt, schlechter Luft ausgesetzt ist oder hohem Stress im Alltag, erkrankt doppelt so häufig als jemand in gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnissen.

Menschen, die in prekären Wohnverhältnissen unter der Armutsgrenze leben, haben einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand als Menschen mit hohen Einkommen. Wer einen Vollzeit-Job hat, geht öfter zum Arzt und lebt gesünder. Nur 27 Prozent der Vollzeit-Erwerbstätigen geben an, chronisch krank zu sein.

Die Studie von Schenk zeigt weiters einen starken Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand und dem Auftreten chronischer Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes, Arthrosen oder Herzinfarkten auf. Je weiter der soziale Status sinkt, desto mehr steigen die Krankheiten an. Die Lebenserwartung in unteren sozialen Schichten ist demzufolge deutlich geringer.

Auch finanzieller Druck schränkt die Behandlungsmöglichkeiten ein: Zudem suchen einkommensschwache Personen bis zu 20 Prozent seltener Fachärzte auf und bekommen durchschnittlich billigere Medikamente verordnet. Die Gesundheit steht oft nicht an erster Stelle, wenn es um das eigene Wohl geht. Ein Arzt wird oft erst dann aufgesucht, wenn die Krankheit sehr weit fortgeschritten ist. „Gerade Patienten, die Angst haben ihren Arbeitsplatz zu verlieren, gehen erst zum Arzt, wenn es gar nicht mehr geht,“ sagt Spak. „Da kann man die Menschen oft nur mit der vollen Chemie-Keule halbwegs schmerzfrei bekommen.“

(Freiwilliger) Verzicht auf Krankenversicherung

Ein weiteres Problem: Laut dem Sozialexperten Schenk hat zwar fast jeder zweite der Nicht-Versicherten Anspruch auf eine E-Card, doch wird der Schutz oft nicht wahrgenommen. „Wir haben gesehen, dass am Land besonders viele auf die Mindestsicherung verzichten und damit auch auf medizinische Hilfe. Da kennt jeder jeden und geht nicht gern mit der Mindestsicherung zum Gemeindearzt“, schildert Schenk. Schlechte Erfahrungen am Amt, Angst vor einer Stigmatisierung in der Dorfgemeinschaft oder sein Eigentum zu verlieren, halten außerdem viele davon ab, die Mindestsicherung in Anspruch zu nehmen.

(c) Nadja Meister

Zudem haben viele das Gefühl, nur das „Billigste zu bekommen“, zitiert Schenk Befragte in seiner Studie. Als Indiz dafür geben sie u.a. lange Wartezeiten beim Arzt an.

Hilfe dank Hilfsleistungen

Einrichtungen wie Ambermed schwimmen nicht in Geld. Sie finanzieren sich mit einem Budget von knapp 280.000 Euro im Jahr. Miete zahlen sie keine, da sie kostenlos beim Österreichischen Roten Kreuz untergekommen sind. Das neue Ultraschallgerät war eine Sachspende der Ärztekammer. Die Stühle in den Behandlungsräumen wurden über Ikea-Gutscheine gekauft. Zur Hälfte werde Ambermed über Förderungen von der Gebietskrankenkasse, der Stadt Wien und dem Gesundheitsministerium finanziert, so Spak. „Den Rest finanzieren wir über Projektförderungen und Sachspenden.“

Mittlerweile ist es 11 Uhr und das Wartezimmer ist noch immer ziemlich voll. Der Frauenarzt hat alle Hände voll zu tun. Beim letzten Mal haben er und seine schwangere Freundin drei Stunden gewartet, erzählt der junge Mann in einer kurzen Raucherpause draußen. Bis sie drankommen, werden es wohl ein paar Zigaretten mehr werden. Es wird ein langer Tag.

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