Psychiatrie

Warten auf den Psychiater

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von Damita Pressl

138 Kassenpsychiater gibt es in Österreich

Die psychische Gesundheitsversorgung in Österreich hinkt immer noch hinter anderen Bereichen her. 138 Fachärzte gab es in Österreich zum 31.12.2015, für die Psychiatrie zu ihrer Berufsbefugnis gehört und die einen Vertrag mit einer Gebietskrankenkasse haben. Darin inkludiert sind Psychiater und weiters Fachärzte, die das Doppelfach Neurologie/Psychiatrie oder Psychiatrie/Neurologie führen und einen Schwerpunkt in der Psychiatrie haben.

Zum Vergleich: Genau 138 aktive Mitglieder des Orchesters der Wiener Staatsoper führt auch die Website der Wiener Philharmoniker zum jetzigen Zeitpunkt an.

Insgesamt gibt es in Österreich zwar etwa 1500 Psychiater, rund ein Drittel davon in Wien. Die allermeisten sind aber in Spitälern beschäftigt oder arbeiten als Wahlarzt. Die wenigen Kassenpsychiater können Akutpatienten nicht ohne Wartezeit behandeln.

„Natürlich springen die Spitalsambulanzen ein, es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig. Somit müssen Akutpatienten in Spitalambulanzen, wo sie eigentlich nicht hingehören. Die Wartezeiten sind je nach Versorgungsregion unterschiedlich, aber man wartet im Schnitt mehrere Monate auf einen Platz beim Kassenpsychiater.“, erklärt Christa Rados, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP).

Johanniskraut und Schulterklopfer

Besonders in akuten Fällen, in der eine möglichst schnelle psychiatrische Untersuchung nötig wäre, wird die niedrige Facharztdichte problematisch. Ella* (25, Name v.d.Red. geändert), erlitt aufgrund einer Erschöpfungsdepression einen Zusammenbruch und wurde ins Krankenhaus gebracht.

„Zwischen meinem Zusammenbruch und dem Termin beim Psychiater vergingen sechs Wochen. So lange verschrieb mir mein Hausarzt einfach weiter jene Tabletten, die ich im Krankenhaus bekommen hatte. Ich bekam also weiter starke Psychopharmaka, ohne dass ein Facharzt das Rezept oder die Dosis überprüft hätte.“

Dass Allgemeinmediziner nicht immer qualifiziert sind, psychische Krankheiten zu behandeln, musste auch Katharina (29) erfahren, als sie mit den Symptomen eines Burn-Outs zu ihrem Hausarzt in Wels kam.

„Ich wurde überhaupt nicht ernst genommen. Als ich mich an meinen praktischen Arzt wandte, meinte der nur ‚Das ist halt so, Sie sind jung, Sie müssen sich erst ans Arbeiten gewöhnen‘. Er hat mich eine Woche lang krankgeschrieben, und mir Johanniskraut empfohlen, mit den Worten ‚Das wird schon wieder‘. Im selben Quartal war ich nochmals dort und habe um eine Krankschreibung gebeten, diese hat er mir nicht gegeben.“

Foto von Katharina am Weihnachtsmarkt
Foto von Katharina am WeihnachtsmarktFoto von Henrik Hulander

Nach Katharinas Umzug nach Wien ging alles deutlich schneller: Sie wandte sich an den psychosozialen Dienst und erhielt nach einem Erstgespräch mit der Psychiaterin direkt einen Therapieplatz bei einer Psychologin. Diesen konnte sie eineinhalb Jahre lang in Anspruch nehmen.

Die ÖGPP fordert eine maximale Wartezeit von drei Wochen auf einen Ersttermin beim Psychiater, dementsprechend müsse die Dichte an Kassenärzten gestaltet werden. Momentan seien bereits die Planstellen zu niedrig bemessen.

»135 Personen können die fachärztliche Versorgung in einem 9-Millionen-Land bei der Häufigkeit der Erkrankungen nicht absichern«

Christa Rados

Jeder Dritte bis Vierte betroffen

Jeder dritte bis vierte Österreicher leidet im Laufe eines Jahres an einer psychischen Erkrankung. Zumindest lautet so die gängige Schätzung, denn genaue Daten zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Österreich gibt es gar nicht, erklärt Rados. Es gebe zwar europaweite Studien und Einzeldaten zu bestimmten Erkrankungen; um die Gesamtsituation zu erfassen, müsse man aber zu den Nachbarn blicken.

„Es ist durchaus legitim, die Daten aus Deutschland, die wir aus dem German Health Interview haben, auf Österreich umzulegen. Ich glaube nicht, dass es in Österreich grundlegend anders ist als in Deutschland.“

Stimmt diese Annahme, leidet etwa jeder Zehnte an Depressionen – von dieser Zahl geht auch die österreichische Arbeiterkammer aus. Ebenso jeder Zehnte gibt, zumindest in Deutschland, eine starke Stressbelastung an. An Angststörungen leiden im Laufe eines Jahres sogar 15% der Bevölkerung. 

Was psychische Erkrankungen kosten

Eine Studie des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger aus dem Jahr 2011 geht davon aus, dass in Österreich jährlich zwischen 790 und 850 Mio. Euro für psychisch erkrankte Menschen ausgegeben werden. In diesen Kosten inbegriffen sind Medikamente, Psychotherapie, psychiatrische Behandlung, ärztliche Leistungen, Diagnostik, Krankengeld sowie Ausgaben für Spitäler. Etwa 900.000 Menschen sind es, die wegen psychischer Diagnosen jedes Jahr das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen.

Zusätzlich entgehen der Wirtschaft durch Krankenstände und Frühpensionen produktive Arbeitskräfte, wobei die Kosten hier schwer zu objektivieren sind, da sie nur mit Modellrechnungen geschätzt werden können. Klar ist allerdings: die Krankenstände bei psychischen Krankheiten sind mit durchschnittlich 40 Tagen deutlich länger als jene bei somatischen Krankheiten, die 11 Tage dauern. Einige Erkrankte scheiden auch ganz aus dem Erwerbsleben aus.

„Betrachtet man die Pensionsneuzugänge an Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitspensionen des Jahres 2016 nach Krankheitsgruppen, so lässt sich feststellen, dass an der Spitze Erkrankungen aus der Gruppe „Psychische und Verhaltensstörungen“ mit 34,9 % stehen.“, heißt es im diesjährigen Handbuch der österreichischen Sozialversicherung. Im Jahr 2016 waren damit knapp 60.000 Personen betroffen.

Allerdings sei die Problematik teils auch eine systemische, gibt Rados zu bedenken. Der Arbeitsmarkt biete für einen Teil dieser Personengruppe kaum Chancen mehr und es könne sich daher eine derartige Verzweiflung und psychische Belastung ergeben, dass eine Frühpensionierung naheliege. „Das ist oft ein Henne-Ei-Problem. Ist jemand depressiv, weil er keinen Job hat, oder hat jemand keinen Job, weil er depressiv ist?“ 

„Psychisch Kranke haben keine Lobby“

Trotz der Häufigkeit solcher Krankheiten und deren Auswirkungen auf das Sozialsystem in Österreich werden Betroffene immer noch stigmatisiert, erzählt Rados.

„Es ändert sich, aber sehr langsam. Ich bin jetzt mehr als 30 Jahre ärztlich tätig. In der Zeit hat sich schon was getan in der Einstellung, aber da ist noch viel zu erledigen. Jeder glaubt, das kriegen nur die anderen. Die, die irgendwie schwächer oder lebensuntüchtiger sind. Es gibt auch in jeder Region eine Beschimpfung für die lokale Psychiatrie. Ich glaube schon, dass das auch eine Rolle spielt.“

Diese Stigmatisierung hat teils sehr reale Konsequenzen: es herrschen für psychische Erkrankungen merklich schlechtere Behandlungsbedingungen.

Psychotherapie: etwa die Hälfte des Bedarfs gedeckt

Knapp zwei Prozent der österreichischen Bevölkerung ist derzeit in psychotherapeutischer Behandlung, es sei davon auszugehen, dass bei etwa drei bis fünf Prozent der Bevölkerung eine solche Behandlung sinnvoll wäre, erklärt Heinz Laubreuter, Vorstand der Wiener Gesellschaft für Psychotherapeutische Versorgung: „Ungefähr die Hälfte der Personen, für die eine Psychotherapie tatsächlich das erste Behandlungsmittel der Wahl wäre, bekommen eine solche Behandlung. Das ist aber, so komisch es klingt, im europäischen Vergleich sehr gut.“

Aber auch hier sind die Wartezeiten oft lang. „Über Wartezeiten gibt es leider keine verlässlichen Zahlen, wir gehen in Wien im Schnitt davon aus, dass die Wartezeit auf einen ambulanten kassenfinanzierten Therapieplatz über die Jahre gesehen irgendwo zwischen zwei und fünf Monaten liegt.“, so Laubreuter.

Versorgung nach Gießkannenprinzip

Die Patienten auszuwählen, denen ein Kassenplatz zugestanden wird, ist heikel. Denn der Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit ist im psychiatrischen Bereich bei weitem nicht so klar wie in der somatischen Medizin. Es ist nicht nur auf Patientenseite schwieriger, festzustellen, wer krank ist, sondern auch auf Dienstleisterseite fraglich, ob jeder Psychotherapeut tatsächlich qualifiziert ist, psychiatrische Krankheiten zu behandeln. Laut dem Psychotherapeutengesetz können sich in Österreich Lehrer, Philosophen oder Theologen zum Psychotherapeut ausbilden lassen. Die Ausbildung beinhaltet zwar einen theoretischen Teil zu Psychiatrie und Psychopathologie, entscheidet sich ein angehender Therapeut aber, den praktischen Teil etwa in einer Beratungsstelle zu absolvieren, kann er es durchaus zum ausgebildeten Therapeuten schaffen, ohne jemals mit psychiatrisch erkrankten Menschen in Kontakt zu kommen.

„Im Zuge der Ausbildung muss man nicht unbedingt etwas über psychiatrische Erkrankungen lernen oder klinische Erfahrung haben, um Psychotherapeut zu werden. Dazu kommt, dass viele den Beruf „nebenher“ betreiben, ihn also ein paar Stunden pro Woche betreiben. Aber wie oft etwas gemacht wird, ist ein ganz wichtiger Qualitätsindikator“, sagt Rados. Der Patient hat also die Qual der Wahl: die beinahe 10.000 Psychotherapeuten in Österreich bieten 23 verschiedene gesetzlich anerkannte psychotherapeutische Methoden an – so viele wie in keinem anderen Land. Zum Vergleich: in Deutschland sind es zwei. 

»„Österreich hat im internationalen Vergleich ein liberales Therapiegesetz. Das ist ein Unikum, ich kenne kein anderes solches Gesetz. Es würde heute wohl auch nicht mehr so beschlossen werden. Das hat vor allem historische Gründe.“«

Heinz Laubreuter

Was wirklich als Krankenbehandlung gilt und was nicht, müsste viel genauer diskutiert werden, meint Rados. „Psychotherapie auf Krankenschein sollte es nur dann geben, wenn es wirklich eine Krankenbehandlung ist. Darum sollte sich die Diskussion drehen. Derzeit haben wir ein Gießkannenmodell: Alle kriegen ein bisschen was. Davon sind manche krank, manche wahrscheinlich wiederum eher nicht so sehr.“

Von der Diagnose abgesehen gibt es bei der Verteilung der Kassenplätze auch administrative Unklarheiten. Tina (36) leidet unter einer schweren Traumastörung, wohnt in Wien, und erzählt: „Meine Therapeutin hat einige Kassenplätze, die von der WGKK bezahlt werden. So lange da Personen bei ihr sind auf Kosten der WGKK, kann sie für neue Leute keinen Antrag auf Kostenübernahme durch die WGKK stellen. Erst wenn wer aufhört. Aber es war überhaupt kein Problem, einen Antrag bei der StGKK zu stellen. Bei mir ist das deshalb gegangen, weil ich noch in Graz gemeldet und versichert war. Es gibt also ein Kontigent der StGKK in Wien für Psychotherapie, das logischerweise nicht ausgeschöpft wird.“

Zweitdiagnose als Auflage für Kassenplätze

Die Unschärfen im System gehen vor allem auf Kosten jener Patienten, bei denen ganz klar eine schwere psychiatrische Erkrankung vorliegt, die aber trotzdem um ihren Kassenplatz bangen müssen. Von Tina verlangt die Gebietskrankenkasse nach 70 Therapiestunden einen Krankheitsbeweis – für die Patientin erst der Anfang, für die Krankenkasse offenbar mehr als genug. „Die von der GKK meinen, nach 70 Stunden muss ich eh gesund sein. Wenn ich dann immer noch nicht gesund bin, muss ich es beweisen. Es reicht nicht, wenn meine Therapeutin oder/und mein Arzt das bestätigen, sondern ich muss eine „Zweitdiagnose“ machen.“

Bei einer Zweitdiagnose ist der Grundgedanke der Krankenkasse jener, dass bei andauernden Behandlungen sichergegangen werden soll, ob eine Psychotherapie das geeignetste Behandlungsmittel ist. Davon soll sich ein Zweitbegutachter in einem einstündigen Gespräch überzeugen. „Psychotherapie kann aufgrund vieler Therapiestunden eine teurer Leistung sein. Die Kassen müssen sich daher davon überzeugen, dass nach langer Therapiedauer noch eine Krankheit vorliegt, für die sie leistungszuständig sind. Hier werden natürlich Gutachterinnen herangezogen“, so eine Sprecherin des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger. Wenn der Gutachter allerdings nicht qualifiziert ist, mit dem jeweiligen Krankheitsbild umzugehen, kann das desaströse Folgen haben, weiß Tina. „Ich musste alles, was mir passiert war, nochmals im Detail durchgehen und mich rechtfertigen. Die Zweitdiagnose war so arg und hat mich so retraumatisiert, dass ich mich drei Wochen lang jeden Tag umbringen wollte. Jetzt habe ich natürlich noch mehr Angst und will nicht mal mehr eine Therapie machen, was natürlich kein rationaler Gedanke ist, sondern ein völlig panischer.“

Fehlender Durchblick bei Vereinsangeboten

Das Angebot an Vereinen und Organisationen, die Patienten eine Psychotherapie vermitteln können, ist nur schwer überschaubar. Neben den Spezialangeboten für bestimmte Störungen und Erkrankungen gibt es Vereine wie TIRAM, der sich speziell an sozial schwächere Betroffenere wendet, die psychologische Studierendenberatung, den Verein für ambulante Psychotherapie, die Wiener Gesellschaft für Psychotherapeutische Versorgung – die Liste könnte fortgesetzt werden.

„Ich sehe die Problematik. Mir ist sehr bewusst, dass aus Patientensicht das psychologische Angebot nicht leicht zu eruieren ist. Das muss man als Konsumentenschutzproblem sehen. Wir haben aus diesem Grund vor über einem Jahr eine Telefonnummer gekauft, 310210 – 0, wo jeder anrufen kann, egal was er oder sie hat, und wir schauen. Wir haben Zeit und Personal darin investiert, unsere Hotline ist vier Tage die Woche besetzt.“, sagt Laubreuter. Die Hotline erhalte etwa 30 Anrufe am Tag, und man sei bemüht, für jeden Anrufer eine passende Lösung zu finden.

Die Abteilung für Sozialpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien führt momentan die erste umfassende epidemiologische Studie zu psychiatrischen Erkrankungen in Österreich durch. Auf Anfrage der Presse hieß es, man könne noch keine Auskunft zu den Ergebnissen geben. Jedenfalls ist eine solche Studie lang überfällig, empfohlen wurde eine repräsentative Erhebung zu Prävalenz psychischer Störungen bereits 2013 vom Beirat für psychische Gesundheit des Gesundheitsministeriums. Ist der Versorgungsbedarf einmal sinnvoll erhoben, kann die Politik ableiten, wie gut er gedeckt ist und die Gesundheitsplanung entsprechend anpassen.

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