Die EU-Gegner verlangen eine harte Haltung, während die Wirtschaft zunehmend nervös wird und sich auf einen unkontrollierten Brexit einstellt. In Brüssel wächst die Empörung über widersprüchliche Signale aus London.
London/Brüssel. Großbritannien läuft in den Brexit-Verhandlungen zunehmend die Zeit davon. Doch während EU-Unterhändler Michel Barnier am Montag die Position Brüssels in der zweiten Runde der Gespräche präsentieren will, ringt London weiter um eine gemeinsame Linie. In einer Grundsatzrede am gestrigen Freitag erklärte Brexit-Minister David Davis einerseits, dass Großbritannien nach dem EU-Austritt „erstmals seit 40 Jahren wieder Wirtschaftsabkommen mit alten Freunden und neuen Verbündeten rund um die Welt schließen können wird“. Zugleich aber bekräftigte er, dass in der bis zu zweijährigen Übergangsphase nach dem Brexit weiter die EU-Regeln und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gelten werden.
Dieses Eingeständnis hatte Davis zuvor bereits heftige Kritik von radikalen EU-Gegnern eingetragen. Der rechtskonservative Jacob Rees-Moog erklärte, mit einem derartigen Arrangement würde Großbritannien zu einem „Vasallenstaat“ der EU. In einer Rede am Donnerstagabend setzte er noch nach und warf der Regierung vor, „ängstlich“ zu sein: „So kann man nicht auftreten und verhandeln“, erklärte er. Rees-Moog wird an der EU-feindlichen Basis der Konservativen als Liebling der Partei gefeiert. Die Macht dieser Fraktion wurde einmal mehr sichtbar, als Premierministerin Theresa May gestern einen Sprecher ausschickte, um ihren moderaten Schatzkanzler Philip Hammond öffentlich zurückzupfeifen. Dieser hatte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos erklärt, die Änderungen in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU würden angesichts des hohen Grads der Integration „hoffentlich sehr bescheiden“ ausfallen. Als daraufhin ein Sturm der Entrüstung unter EU-Gegnern ausbrach, widersprach ein Regierungssprecher: „Wir können diese (Veränderungen, Anm.) nicht als sehr bescheiden bezeichnen.“
Schwaches BIP-Wachstum
Dass vor diesem Hintergrund keine inhaltliche Positionierung möglich ist, beunruhigt die Wirtschaft zusehends. Im vergangenen Jahr legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vereinigten Königreich laut Statistikamt in London um nur 1,8 Prozent zu: Das ist der schwächste Wert seit dem Jahr 2012. In Deutschland stieg das BIP 2017 im Vergleich um 2,2 Prozent.
Mehr als 60 Prozent der Unternehmen erklärten zudem nach einer Umfrage des Wirtschaftsverbands CBI, dass sie sich gezwungen sehen, für einen harten Brexit Vorbereitungen zu treffen. Der Chef eines Großbetriebs beklagte das Fehlen einer Regierungslinie: „Es gibt nichts, worauf wir uns konzentrieren könnten. Und in Abwesenheit klarer Richtlinien müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen.“
Das zu verhindern ist erklärter Wille vieler Vertreter des britischen Oberhauses. Das House of Lords beginnt am Dienstag mit der Debatte über das Brexit-Gesetz. Die Regierung hat in der zweiten Kammer keine Mehrheit, und zahlreiche Änderungsanträge werden erwartet. Bisher war es aber stets die Labour-Opposition, die der Regierung am Ende über die Hürde half.
EU-Minister legen Leitlinien fest
Auch in Brüssel beginnen in der kommenden Woche wichtige Beratungen für die zweite Verhandlungsrunde mit Großbritannien. Am Montag wollen die 27 verbleibenden Europaminister Leitlinien für die Übergangsperiode festlegen. Das Vereinigte Königreich soll dann nicht mehr in Entscheidungsprozesse der Union involviert sein, gleichzeitig sind regulatorische, budgetäre und rechtliche EU-Instrumente weiter anzuwenden. Uneinigkeit zwischen Brüssel und London herrscht jedoch darüber, wie lange diese Übergangsphase, die nach dem offiziellen Ausscheiden Großbritanniens Ende März 2019 beginnt, überhaupt dauern soll. EU-Chefunterhändler Barnier veranschlagt dafür etwas weniger als zwei Jahre, Davis hingegen sprach von 27 Monaten.
Doch dies ist bekanntermaßen lange nicht der einzige Stolperstein in den schwierigen Gesprächen der Scheidungspartner, die künftig alle 14 Tage zusammentreffen wollen, um das Verhandlungstempo zu erhöhen. In Brüssel jedenfalls ist man ob der widersprüchlichen Signale aus London bereits reichlich empört. Der Diplomat eines EU-Mitgliedslands formulierte es am gestrigen Freitag ganz treffend: „Wir wissen nicht recht, wer für die britische Seite spricht. Da gibt es David Davis, aber es ist nicht klar, ob Downing Street auch stets dasselbe wie er will.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2018)