Marin Alsop: „Das reiche Erbe fehlt in den USA“

Sie liebt lebende Komponisten – und von den Toten besonders Brahms und Mahler: Marin Alsop (61) übernimmt im Herbst 2019 die Leitung des Radiosymphonieorchesters Wien.
Sie liebt lebende Komponisten – und von den Toten besonders Brahms und Mahler: Marin Alsop (61) übernimmt im Herbst 2019 die Leitung des Radiosymphonieorchesters Wien.(c) APA/ADRIANE WHITE
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Marin Alsop war die erste Chefdirigentin eines großen US-Orchesters, nun wird sie es beim RSO: ein Gespräch über Wien, #MeToo in der Musik und ihren Mentor Bernstein.

Einst hörte sie hingerissen Leonard Bernstein zu, wenn er ihr von Wien erzählte – bald wird sie selbst hier Wurzeln schlagen. Marin Alsop, die erste Frau, die je an der Spitze eines großen US-Orchesters stand, wird im Herbst nächsten Jahres als Nachfolgerin von Cornelius Meister Erste Chefdirigentin des ORF-Radiosymphonieorchesters (RSO).

„Wenn ich hier einfach einen Tag lang durch die Straßen gehen kann, wird ein Traum für mich wahr“, sagt die 61-jährige gebürtige New Yorkerin im Gespräch mit der „Presse“. „Ich fühle, wie Geschichte in jedem Moment lebendig wird, gleichzeitig ist es eine Stadt unserer Zeit. Dieses reiche Erbe fehlt uns in den USA.“ Dort übernahm Alsop 2007 das Baltimore Symphony Orchestra, ein Jahr später wurde sie in die ehrwürdige American Academy of Arts and Sciences gewählt, deren Mitglieder herausragende Künstler und Wissenschaftler sind. 2013 war sie dann die erste Frau, die je die Londoner „Last Night of the Proms“ dirigierte.

„Ich liebte Bernsteins Wien-Geschichten“

Das brennende Interesse an, die Erfahrung mit zeitgenössischer Musik verbindet sie mit dem auf Neue Musik spezialisierten RSO. Mit ihm trat sie 2014 zum ersten Mal mit auf – mit Mahler, Bernstein. Das Programm war auch eine Liebeserklärung. „Ich arbeite sehr gerne mit lebenden Komponisten“, sagt sie. „Aber was die Toten angeht – Brahms und Mahler waren meine frühesten Lieblingskomponisten und sind es bis heute.“ Bernstein wiederum „war mein Held, seit ich zehn Jahre alt war. Weil ich ihn dirigieren gesehen habe, wollte ich selbst Dirigentin werden.“ Zu einer Zeit wohlgemerkt, in der Frauen am Pult inexistent waren.

Leonard Bernstein wurde ihr Lehrer, ihr großer Mentor. „Ich durfte bei ihm studieren, mit ihm reisen. Seine Beziehung zu Wien war für ihn so wichtig, auf so vielen Ebenen, und ich habe seine Geschichten darüber sehr geliebt.“ Was er ihr sonst noch vor allem mitgegeben habe: „die Haltung, sich als bedingungsloser Botschafter der Komponisten zu sehen.

Und er hat verstanden, dass er mit seiner Position nicht nur musikalisch, sondern auch sozial und politisch etwas bewirken kann. Auch das habe ich sehr bewundert. Er war extrem anspruchsvoll, ein Perfektionist, das konnte auch erschreckend sein, weil er so viel von jedem erwartete. Ich habe sehr hart gearbeitet, um ihn nicht zu enttäuschen.“

Es hat sich gelohnt. Seit dem Studium in Yale und an der Juilliard School hat Marin Alsop mit den bedeutendsten US-Orchestern wie dem New York Philharmonic, dem Chicago Symphony oder dem Los Angeles Philharmonic Orchestra als Gastdirigentin gearbeitet, hat u. a. das Concertgebouw-Orchester, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks oder die Münchner Philharmoniker geleitet. Heuer spielt sie auch eine zentrale Rolle bei den Feierlichkeiten zu Bernsteins 100. Geburtstag – etwa am Pult des London Symphony Orchestra.

Ist Machohaftes heute obsolet? „Nein!“

„Nein, es gibt noch gar keine Gleichberechtigung in der Musikszene“, sagt sie entschieden auf die Frage nach weiblichen Dirigenten und #MeToo. „Die Musikszene ist ein Mikrokosmos der Gesellschaft, aber noch konservativer als der Durchschnitt.“ Die Frage, ob machohaftes Verhalten von Dirigenten heute obsolet sei, entlockt der Frau mit dem spitzbübischen Lächeln ausgelassenes Lachen: „Oh nein! Ich sehe nicht, dass sich viel geändert hat. Immerhin – etwas tut sich nun doch . . .“ Mit sexueller Belästigung wiederum habe sie selbst keine schlimmen Erfahrungen gemacht; „aber natürlich wussten wir alle in dem Geschäft, dass es passiert. Deshalb liegt auch die Verantwortung dafür, nicht darüber gesprochen zu haben, nichts verändert zu haben, bei uns allen.“

Ihren Vertrag für das Baltimore Symphony Orchestra will sie auch nach September 2019 noch bis zum Ende der Laufzeit, 2021, erfüllen. Spätestens diesen Herbst wird sie aber schon länger in Wien sein, um mit dem RSO eine DVD einzuspielen. Dessen Musiker hätten sich dezidiert Alsop zur Langzeitchefin gewünscht, heißt es.

Große Zustimmung kam am Montag auch vom Musikvereinschef, Thomas Angyan („spannende Begegnungen mit innovativen Programmen abseits des Mainstreams sind zu erwarten“), sowie vom Konzerthauschef, Matthias Naske: Er teile und schätze Marin Alsops Überzeugung, dass Musik die Kraft habe, Leben zu verändern“ – und das „unablässige Streben nach künstlerischer Exzellenz“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2018)

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