Kommentar

Ein Zeitalter wider die Vernunft

Die genaue Analyse der Brexit-Abstimmung zeigt, welche Prioritäten heute Gesellschaften setzen.

Erlebt Europa das Ende der Aufklärung? In einem Punkt zeichnet sich das tatsächlich ab: Denn die Vernunft, die sich laut Arthur Schopenhauer vom anschaulichen Denken des Verstands dadurch unterscheidet, dass sie auch abstrakte Erkenntnisse ermöglicht, versiegt. In der politischen Debatte dominiert das Anschauliche: die Zuwanderung, die kulturelle Vermischung und die damit gerne verknüpften Risiken.

In Großbritannien etwa führt dies zu erstaunlichen Konsequenzen. Denn die Briten sind mehrheitlich bereit, ökonomische Nachteile hinzunehmen, wenn nur die Zuwanderung eingedämmt wird. Die Vernunft, den abstrakten EU-Binnenmarkt als Garant für Freiheit und künftigen Wohlstand zu akzeptieren, wird hintan gestellt. Denn dieser Markt bedeutet die Verpflichtung zu offenen Arbeitsmärkten in Europa. Und die wurden in der erfolgreichen Kampagne der Brexit-Befürworter als reiner Nachteil dargestellt.

Dass ein Arbeitsplatz für einen Einwanderer nicht automatisch einen weniger für Inländer bedeutet, ist Teil der abstrakten Logik der Marktwirtschaft. Diese zu vermitteln, wäre eigentlich Aufgabe der Politik. Aber sie orientiert sich nicht mehr an der Logik, sondern vorwiegend an der Anschaulichkeit.

wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2018)

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