Brexit-Studie: Kluft in der britischen Gesellschaft

Commuters cross London bridge in central London
Commuters cross London bridge in central London(c) Reuters (PAUL HACKETT)
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Unter Befürwortern des EU-Austritts gibt es Bereitschaft, für einen Einwanderungsstopp auch wirtschaftliche Nachteile hinzunehmen. Ein Umdenken ist deshalb unwahrscheinlich.

London. Selbst die dem Brexit verpflichtete britische Regierung rechnet offenbar mit schwerwiegenden negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Austritts des Landes aus der EU. Eine zu Wochenbeginn bekannt gewordene Geheimstudie rechnet mit einem Wachstumsverlust von bis zu acht Prozent in den kommenden 15 Jahren. Dennoch ist ein Umdenken der Briten weiter nicht in Sicht. Wie die gestern, Mittwoch, in London veröffentlichte Untersuchung „Brexit and Public Opinion“ festhält, „ist eine massive Veränderung unwahrscheinlich“.

Der entscheidende Grund dafür ist nach Analyse des Politikwissenschaftlers Matthew Goodwin, dass die Entscheidung für den Brexit in erster Linie nicht ökonomisch begründet war. Im Gegenteil: Die Briten rechneten damit, dass der EU-Austritt einen Preis fordern würde. Sie hatten aber ein stärkeres Motiv: eine Begrenzung oder ein Ende der Zuwanderung: „Die Mehrheit sah das Verlassen der EU zwar als wirtschaftlich kostspielig, aber dennoch vorteilhaft an, weil es zu einem Rückgang der Immigration führen würde“, schreibt Goodwin.

Der deutliche Rückgang der Zuwanderung seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 scheint den Erwartungen der EU-Gegner recht zu geben, während die Wirtschaft immer noch hofft: Immerhin ist der Brexit bisher nicht in Kraft. Die Regierung kommt dabei aber immer mehr in eine Zwickmühle: Handelsminister Liam Fox, ein führender „Brexiteer“, warnte erst diese Woche seine Gesinnungsgenossen angesichts der Debatte um Übergangsfristen: „Wir werden mit Enttäuschungen leben müssen.“

An einem Aus für den freien Zugang zum Arbeitsmarkt hält Großbritannien in den Verhandlungen mit Brüssel weiter fest – und sei es um den Preis, die Mitgliedschaft in der Zollunion und im EU-Binnenmarkt zu verlieren. „Die Einwanderungsfrage spielte nicht nur eine zentrale Rolle in der EU-Volksabstimmung, sondern hat sich auch als entscheidend für die Positionierung der Regierung herausgestellt, welche Art des Brexit sie zu erreichen hofft“, schreibt John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow.

Tories punkteten bei Arbeitern

Die Neuwahl im vergangenen Jahr wurde nach Ansicht der Studienautoren zu einem Wendepunkt: Die Konservativen unter Theresa May gingen eindeutig als Partei des Brexits in den Wahlkampf. Damit erreichten sie einen historischen Wähleraustausch: Erstmals gewannen die Tories unter der Arbeiterklasse und den Schichten mit geringerer Bildung eine Mehrheit. Damit konnten sie zwar zulegen, aber weniger als die oppositionelle Labour Party, der es umgekehrt gelang, nicht nur die Jugend, sondern auch die Mittelklasse zu erobern.

Während sich die traditionellen Klassen- und Parteienzuordnungen auflösen, ist der Brexit zum neuen Bestimmungsmerkmal geworden. Von einem „politischen Erdbeben“ spricht Geoffrey Evans von der Universität Oxford. „Mays Wähler sind mehr für den Brexit und Zuwanderungsbeschränkungen als die ihres Vorgängers David Cameron waren.“ Von dieser Seite kommt auch weiter Druck auf einen harten Bruch mit der EU, den der Politikwissenschaftler daher auch als „bedeutend wahrscheinlicher als eine völlige Rücknahme des Brexit“ bezeichnet.

Das Brexit-Votum hat tiefe Bruchlinien und Identitätsfragen der britischen Gesellschaft zum Vorschein gebracht. Maria Sobolewska und Robert Ford vom Thinktank „The UK in a Changing Europe“ weisen nach, dass die Einstellung eines Wählers zu Fragen von Minderheitenrechten ein zuverlässiger Indikator für sein Brexit-Abstimmungsverhalten war: „Die Ablehnung von Gleichberechtigung und Inklusion ist ein zentrales Element im Denken jener Wähler, die sich zurückgelassen fühlen.“

Entsprechend haben Wähler weißer Hautfarbe mit geringer Bildung und außerhalb der Städte mit bis zu 70 Prozent für den Brexit gestimmt. Die Polarisierung besteht aber auch auf der entgegengesetzten Seite: 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmten für den Verbleib in der EU. Die Studie hält fest: „Es gibt nur wenig Anzeichen dafür, dass Großbritannien sich zusammengeschlossen hat, um sich den Herausforderungen des Brexit zu stellen, wie es Premierministerin May behauptet hat. Stattdessen führt sie eine geteilte und polarisierte Nation“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2018)

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