Die „Maßnahmen“ gegen Österreich wurden durch ein emotionales Moment in Stockholm geboren.
Es war Jänner und eiskalt. Im Folkes Hus in Stockholm kam zu Beginn des neuen Jahrtausends eine prominente Runde von Staats- und Regierungschefs zusammen. „Niemals wieder!“, war das Motto ihrer Holocaust-Konferenz, die sich mit Rassismus und Fremdenhass beschäftigen sollte. Der angereiste österreichische Bundeskanzler Viktor Klima (SPÖ), so berichteten später Delegationsteilnehmer, wirkte von den gescheiterten Koalitionsverhandlungen in Wien müde und marionettenhaft. Das Schulterklopfen seiner sozialdemokratischen Kollegen tat ihm sichtlich gut. In seiner Rede spielte er auf die nun zu erwartende Regierungsbeteiligung der FPÖ in Österreich an. Es wurde ruhig im Saal. „Der Holocaust ist nicht nur das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts, er ist eine der monströsesten Untaten der Geschichte der Menschheit“, sagte Klima. „Wer das nicht klar und deutlich sagt, ist ungeeignet, öffentliche Verantwortung zu übernehmen.“
Die Runde, in der Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder, der dänische Regierungschef Poul Nyrup Rasmussen und auch der französische Premier Lionel Jospin saßen, nickte wissend. Der Name „Jörg Haider“ hatte bereits seit Stunden die Runde gemacht. Seine Aussagen zur „ordentlichen Beschäftigungspolitik“ im Dritten Reich, seine Solidaritätsbekundungen an ehemalige SS-Mitglieder, seine Verharmlosung von Konzentrationslagern, die er als „Straflager“ bezeichnete – alles wurde an diesem Tag debattiert. Und irgendwann sagte ein Regierungschef nach dem anderen: „Wir müssen etwas tun.“
Das war die Geburtsstunde der Sanktionen, der diplomatischen Maßnahmen, die vor zehn Jahren das Verhältnis Österreichs zu seinen europäischen Partnern nachhaltig verändert haben. Sie entstanden aus einem emotionalen Feuer, mitangefacht durch einen enttäuschten Bundeskanzler in Stockholm und einen düpierten Bundespräsidenten in Wien, dessen Telefonkontakte mit den EU-Partnern als „Hilferuf“ interpretiert wurden.
Ziel war vorerst nur eine internationale Drohung, um die schwarz-blaue Regierung in Wien zu verhindern. Aber nachdem sich ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel nicht einmal von Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac weich klopfen hatte lassen, wurde aus der Drohung bitterer Ernst. Es spielte keine Rolle mehr, dass Jörg Haider, das Feindbild der Holocaust-Konferenz, aus eigenen Stücken auf ein Amt in der Regierung verzichtet hatte und sich nach Kärnten zurückzog.
Provokationen von der Gerlitzen
Am Samstag, dem 29. Jänner 2000, überschlagen sich die Ereignisse: Zunächst führt Chirac mit dem portugiesischen Premier und EU-Ratsvorsitzenden António Guterres ein Telefonat, in dem der Franzose ein politisches Zeichen gegen die Koalitionsbildung in Wien fordert. In Hannover trifft am selben Tag Guterres mit Schröder zusammen. Auch hier ist das Hauptthema Österreich.
Die Forderung nach Sanktionen steht bereits im Raum, aber sie ist noch nicht entschieden. Da erreichen die TV-Bilder von Jörg Haiders Geburtstagsfeier die EU-Partner. Alle prominenten Fernsehstationen waren auf die Gerlitzen gekommen: CNN, ZDF, RTL, ARD, ITN und TF1. Haider feiert seinen 50er und attackiert dabei lustvoll Chirac als „Westentaschen-Napoleon“, Belgien als ein Land mit einer „korrupten Regierung“.
Am Sonntag, dem 30. Jänner, laufen die Telefone heiß. In Berlin stimmt der Diplomat Michael Steiner den Text für die angedrohten Maßnahmen zwischen den EU-Hauptstädten ab. Der Schröder-Berater wird zum Fädenzieher im Hintergrund. Sonntagabend fehlen nur noch Finnland, Dänemark und Irland. Doch auch sie beugen sich schließlich dem Gruppendruck. Einen Tag später wird Bundespräsident Thomas Klestil von den EU-Partnern über die Sanktionsdrohung informiert.
In Wien schlägt die Nachricht wie eine Bombe ein. Gregor Woschnagg, damaliger Spitzendiplomat in Brüssel, erinnert sich an ein Treffen mit dem Noch-Außenminister Wolfgang Schüssel. „Ich wollte eigentlich zum Jägerball, aber Schüssel hat mich unbedingt sprechen wollen.“ Hinter verschlossenen Türen wird beraten, wie die künftige schwarz-blaue Regierung auf diese Demütigung reagieren soll. Klagen beim EuGH, Drohungen und der Boykott aller einstimmigen EU-Entscheidungen stehen im Raum. „Doch das hätte nur zu einer weiteren Eskalation geführt“, erinnert sich Woschnagg an seine damaligen Appelle. „Sie haben mich als Weichei-Diplomaten bezeichnet. Aber solche Reaktionen hätten alles noch schlimmer gemacht.“
Der Versuch, die schwarz-blaue Regierung von außen zu kippen, misslingt. Am 4. Februar 2000 wird mit Wolfgang Schüssel erstmals ein Bundeskanzler angelobt, der vom Bundespräsidenten nie den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hat.
Die nächsten Wochen werden für die heimische Diplomatie zur Hölle. „Beim neuen Bundeskanzler Schüssel lagen die Nerven blank“, erinnert sich ein Weggefährte des ÖVP-Chefs. Portugals Regierungschef Guterres, der neue EU-Vorsitzende, weigert sich, auf seiner Tour durch die EU-Hauptstädte nach Wien zu kommen. Ein Affront. Israel zieht seinen Botschafter aus Österreich ab.
Die EU-Treffen in Brüssel werden zur Demonstration des Anti-Österreich-Lagers. Einige der Minister tragen Sticker mit einem durchgestrichenen Mascherl am Revers als Absage an Schüssels Team. Angereiste Regierungsmitglieder aus Wien werden geschnitten und ausgegrenzt. Wenn FPÖ-Minister das Wort ergreifen, verlassen andere den Saal. Um die Peinlichkeit von Fotos mit verweigerten Handshakes zu verhindern, kommen die österreichischen Regierungsvertreter prinzipiell zu spät und tragen in jeder Hand einen Aktenstapel.
Schüssel selbst ergreift Wochen später bei einem EU-Gipfel in Portugal das Wort. Er versucht, die Runde zu beruhigen und auf ein Ende der Sanktionen zu drängen. „Aber die Staats- und Regierungschefs starrten nur in ihre Kaffeetassen“, erinnert sich Woschnagg. Keiner reagiert, keiner zeigt Entgegenkommen.
Schüler beschimpft
Noch viel schlimmer als diese „diplomatischen Maßnahmen“ ist das produzierte Feindbild „Österreich“, das ganz normale Bürger trifft. Schüler aus Österreich, die in Brüssel an einem Schülerparlament teilnehmen, erleben die Stigmatisierung hautnah: „Wir wurden als Rassisten und Nationalsozialisten beschimpft.“
Belgiens Außenminister Louis Michel gesteht Jahre später im Gespräch mit der „Presse“ zwar seinen „größten politischen Fehler“ ein. Damals aber ruft er zum Boykott österreichischer Skiorte auf. In belgischen Zeitungen erscheint ein Protestaufruf gegen Österreich mit zwei Skifahrern, die mit ihrer Spur „SS“ auf die Piste zeichnen. „Wir wollten die Regierung verhindern und haben das ganze Land getroffen“, so Michel. „Das tut mir leid.“
Immer absurder werden die EU-Treffen. Im portugiesischen Feira gibt es nur noch ein Thema: „Wie geht es mit Österreich weiter?“ Die Arbeit der EU ist lahmgelegt. Als es Sommer wird, bricht die Front auseinander. Die Sanktionen werden nach sieben Monaten und zehn Tagen am 12. September 2000 mit sofortiger Wirkung und bedingungslos aufgehoben.
Buchhinweis: „Der Österreich-Komplex – Ein Land im Selbstzweifel“, Wolfgang Böhm und Otmar Lahodynsky, Böhlau Verlag 2001.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30. Jänner 2010)