Marokkos Fußballfans blicken mit gemischten Gefühlen nach Europa: Mit Begeisterung und Argwohn und mit sehnsüchtigem Glanz in den Augen. Zur Fußball-WM in Südafrika im Juni hat man's nicht geschafft.
Im Café Montréal werden die Tische ins Eck geräumt, dichte Reihen brauner Plastiksessel stattdessen aufgestellt. „Die Leute wollen Barça (FC Barcelona, Anm.) sehen“, meint Youssef Ahenguir, der Tee serviert. Er nickt in Richtung des Flachbildschirms über dem Ausgang zum Djemaa el Fna, dem Marktplatz von Marrakesch.
In den Kaffeehäusern der Stadt steht der Afrika Cup in Angola, in dessen Finale diesen Sonntag Ägypten und Ghana aufeinandertreffen, hinten an, klar hinter der spanischen Liga. Denn der marokkanische Fußball steckt in einer Identitätskrise. Grund: Marokko war bei diesem Afrika Cup nicht dabei, das erste Mal seit 14Jahren. Und auch nicht bei der Weltmeisterschaft im Juni in Südafrika, für die es sich noch als Gastgeberland beworben hatte.
Marokko hat die schlechteste Qualifikationsrunde seiner Fußballgeschichte hinter sich. Drei Unentschieden, drei Niederlagen – traurige Bilanz für die „Atlas-Löwen“, wie die Nationalelf heißt. „Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass der Afrika Cup keine marokkanische Spezialität ist“, schreibt Jalal Bouzrara, Herausgeber des Fußballmagazins „Stadium“.
Vor zehn Jahren noch auf Platz zehn der Fifa-Weltrangliste, mussten die Atlas-Löwen seither 57Ränge einbüßen. Nostalgisch sinniert man im Montréal über 1986, dem Jahr des marokkanischen „Córdoba“: Als erstes afrikanisches Team erreichte Marokko damals das Achtelfinale einer WM und siegte zudem über England. Das stellt selbst den Titel des Afrikameisters von 1976 in den Schatten. Glänzende Augen, während man süßen Minztee schlürft.
An jeder Ecke wird gekickt
An jeder Ecke wird gekickt. Ob auf den Plätzen außerhalb der Medina, der Altstadt, oder auf freien Flächen innerhalb. Die Jungen tragen Trikots von Ibrahimovi?, Messi und Kaká. Das Montréal hat die meisten Gäste, wenn FC Barcelona oder Real Madrid das Feld betreten. Dichtes Gedränge an der Tür und auf den Sesseln, die extra aufgestellt werden.
Anders beim Afrika Cup. Da blieben die Tische stehen und waren nur spärlich besetzt. Während die Zuseher (allesamt Männer) halbherzig mit den „algerischen Brüdern“ mitfiebern, lästern sie über den afrikanischen Fußball. Und betreiben Ursachenforschung für die schlechten Leistungen ihrer Nationalmannschaft: Neben den unfähigen Trainern, die in den letzten vier Jahren sechsmal ausgetauscht wurden, bemängeln sie, dass den Spielern der Bezug zum Land fehle. „Für Marokko gehen Leute aufs Feld, die das Land noch nie zuvor betreten haben“, meint Youssef. Der 26-Jährige trifft einen empfindlichen Nerv der Mannschaft.
Löwen, die nicht brüllen können
Mit 14Spielern, die in Europa geboren wurden, dort aufwuchsen und trainierten, ging Marokko in die letzte WM-Qualifikation. Mit marokkanischen Eltern steht diesen die Staatsbürgerschaft zu. Weil in Europa die Auswahl an Talenten größer ist, also die Chance, in die dortigen Nationalteams berufen zu werden, dementsprechend kleiner ist, werden Spieler zu Atlas-Löwen, die das Brüllen nicht gelernt haben.
So sehen das viele Marokkaner und verweisen auf Marouane Chamakh (Bordeaux) oder Mounir El Hamdaoui (AZ Alkmaar). Als Letzterer jüngst ein TV-Interview auf Englisch gab, goss er Öl ins Feuer. „Nationalspieler, die weder Arabisch noch Französisch können?“ – Youssef winkt ab. Auch würden sie den afrikanischen Fußball nicht kennen, wären die oft schlechten Spielbedingungen nicht gewöhnt.
Und doch sind es die Besten, die sie haben. Entsprechend schrien die Fans auf, als Trainer Hassan Moumen vor dem letzten WM-Qualifikationsspiel gegen Gabun 14Spieler, die bei ausländischen Clubs unter Vertrag sind, gegen „echte“ Marokkaner austauschte. Mit demselben Argument, das auch Exfußballstar Mohammed Timoumi vorbrachte, als die Abwärtsspirale begann: „Die Marokkaner, die im Ausland spielen, sind dem marokkanischen Dress nicht treu“, meinte der Nationalheld, der die Löwen 1986 führte.
Geld machen in Europa
Während Youssef den Tee abräumt, resümiert er zähneknirschend: „Sie spielen dort gut, wo sie Geld verdienen.“ Aber richtig übel nimmt er's ihnen nicht, da ist er konsequent. Schließlich träumt er selbst von Europa und vom großen Geld dort wie die meisten hier. „Zunächst in die Türkei, und von dort aus nach Italien“, das ist sein Plan für das kommende Jahr.
Es sei eigentlich auch nicht so tragisch, dass Marokko beim Afrika Cup nicht dabei war, meint er. Stattdessen habe man halt Algerien angefeuert – und irgendwie gehöre sein Land ohnehin mehr zu Europa als zu Afrika.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2010)