Die Wende 2000: Es gilt das gebrochene Wort

(c) AP (Jürg Kristandl)
  • Drucken

Was bleibt vom schwarz-blauen Experiment? Die Dynamik für nötige Reformen reichte nicht einmal für eine Saison. Seither herrscht Stillstand. Geblieben ist in neuen Kleidern die politische Schamlosigkeit.

Wer erinnert sich noch an die britische Rockband Ten Years After? Sie trat zwar 1969 in Woodstock auf, aber im Vergleich zu den Beatles oder gar zu den Rolling Stones, die bei diesem legendären Popfestival nicht dabei waren, ist sie heute vergessen.

Zehn Jahre danach. Das ist eine heikle Spanne, man befindet sich in der Inkubationsphase für Legenden, weil das Gedächtnis nachlässt und auch die emotionale Bindung an diese Zeit trügerisch ist. Wer erinnert sich noch an das erste Kabinett des österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel (ÖVP), das vor zehn Jahren auf dem Ballhausplatz – nein, unter dem Ballhausplatz! – eingezogen ist, mit seinen rasenden Rotationen bei den blauen Ministerposten von Anfang an? Krüger? Sickl? Schmid? Forstinger? Reichhold? Hat irgendjemand eine Idee, was diese Damen und Herren gemacht, was sie gedacht haben? Was sie zum Wohle der Republik bewegen wollten?

Im Prinzip muss man in diesem Punkt dem vor zehn Jahren heftig diskutierten Philosophen Rudolf Burger recht geben – nicht unbedingt in seiner Kritik am antifaschistischen Karneval, die er damals auch zur Verteidigung der Koalition von ÖVP und FPÖ vorgebracht hat (das ist eine Geschmacksfrage), sondern für sein „Plädoyer für das Vergessen“, das er 2001 publiziert hat. Manchmal ist es gnädig, über seltsame Figuren am Rande der Geschichte zu schweigen.

Was also bleibt von „Schüssel I“? Eingeprägt haben sich Skurrilitäten. Die eisige Miene des Bundespräsidenten Thomas Klestil bei der Angelobung der neuen Regierung, das feixende Gesicht von FPÖ-Obmann Jörg Haider, die staatstragende Miene des frischen Regierungschefs, der sich im Moment der Machtübernahme offenbar dazu entschlossen hat, zum Schweigekanzler zu werden.

Und der Auftritt des Schauspielers Hubert Kramar, der als Adolf Hitler kostümiert zum Opernball ging. War das nun eine Persiflage auf das rechts-konservative Bündnis oder gar eine hintersinnige Kritik an der hysterischen Reaktion der Europäischen Union, die Österreich mit Sanktionen bedachte, als ob der Faschismus in Wien Einkehr hielte? Der Pseudo-Hitler passte jedenfalls zum von Burger kritisierten Karneval, der sich monatelang jeden Donnerstag rund um den Heldenplatz, ja in der halben Stadt abspielte und langsam versickerte; schließlich war dieses von besorgten Voll- und auch vielen Halbintellektuellen verbrämte Unterfangen fast so peinlich wie der offiziöse Versuch der EU, die Sanktionen ohne Gesichtsverlust zu beenden. Die „drei Weisen“ aus dem Abendland pilgerten nach Wien – Ahtisaari, Frowein, Oreja. Sie kamen zu dem sensationellen Befund, dass Österreichs Bundesregierung westliche Werte vertrete und die FPÖ eine rechtspopulistische Partei mit radikalen Elementen sei. Das war's.

Was also bleibt von der schwarz-blauen Wende, die im Februar 2000 begann, um 2006 als schrilles schwarz-oranges Satyrspiel zu enden? Ein persönlicher Eindruck: Die prägendste Erinnerung ist ein, sagen wir, neoliberaler Umgang mit der Wahrheit, der bereits im August 1999 den Wechsel eingeleitet hat. Seine Wirkung dauert bis heute an.

Dazu aber muss ein kurzer Exkurs über die politische Lüge (so nannte man früher die Aussagen von Spin-Doktoren) eingeschoben werden, der in ethischen Turbulenzen endet. Zitiert sei der deutsche Staatsrechtler Carlo Schmid:

„Wer glaubt, Machiavelli sage, Politik könne man nur mit Gift und Dolch, Lüge und Verbrechen machen, hat ihn gründlich missverstanden. Wo es ohne diese Dinge geht, darf man diese Mittel gar nicht anwenden, nicht aus moralischen Gründen, sondern, weil es unpolitisch wäre, es zu tun. Wo aber, gewissermaßen von der Technik des Machtkampfes her, in einer bestimmten Lage Gift und Dolch, Lüge und Verbrechen nicht entbehrt werden können, um den Gegner zu überwinden, wenn es wirklich um Sein oder Nichtsein geht, dann ist einer als Staatsmann nur dann richtig am Platze, wenn er es über sich bringt, sich dieser Mittel zu bedienen, sei es als nihilistischer Zyniker, sei es als einer, der dem Staat „das Königsopfer seiner Seele“ bringt. Das ist der Sinn des Wortes von Machiavelli, dass ein Staatsmann auch böse handeln können müsse.“

Hat also ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel unpolitisch gehandelt, als er im August 1999 im Wahlkampf angekündigt hat, in Opposition zu gehen, falls seine Partei an dritter Stelle lande? Aus dem damaligen Umfeld des Kanzlers ist heute zu hören, dass es sich um ein gar nicht notwendiges Manöver, also um eine politische Dummheit gehandelt habe. Doch bis heute ist diese Ankündigung, nach der Schüssel nichtsdestotrotz der erste schwarze Bundeskanzler nach 30 Jahren wurde, noch immer sein Stigma, nicht nur für jene, die ihm das aus professionellen Gründen anlasten wollen, sondern bis weit in katholische Kreise hinein.

Schüssel hat der Volkspartei das Königsopfer seiner Seele gebracht, indem er einen Wortbruch beging. Bei Machiavelli ist das zwar ein harmloses Vergehen, ein notwendiges Übel für Veränderung, aber bei der Regierung Schüssel I und II endete der Versuch, durch die Dynamik einer neuen Koalition Reformen zu erzwingen, in nur einer Saison mit Stillstand. Der hält bis heute an. Geblieben ist auch der Wille zum Wortbruch. Das Jahrzehnt seit der Wende war für Österreich eines der politischen Schamlosigkeit. Parteiübergreifend.

Womit ist die FPÖ im Jahr 2000 angetreten, die seit der Machtergreifung Jörg Haiders bei den Blauen 1986 ein Trommelfeuer gegen die Altparteien, die Bonzen, die Ausländer (kurz, gegen die Missgeburt Österreich) inszeniert hat? Sie wollte den Filz beseitigen, die Korruption, sie wollte das Budget sanieren. Es gilt das gebrochene Wort. Ein kurzer Blick auf die Personalpolitik der FPÖ im staatlichen und halbstaatlichen Bereich oder auf den desolaten Zustand des Landes Kärnten genügt, um zu sehen, welche Fraktion derzeit in Österreich die älteste Altpartei ist. Politik ist für sie nicht mehr Dienst, sondern bloßes Geschäft. Selbst der zynische Machiavelli hätte für solche Typen nur Verachtung über.

Und diese Praxis der Schamlosigkeit hat sich durchgesetzt. Wo ist noch eine Alternative? Angst macht, was man kurz am 24./25. September 2008 im Parlament beobachten konnte: Rot-Blau-Orange-Grün-Schwarz überboten sich bei der letzten Sitzung vor der Wahl im Ausschütten von Boni, die nicht leistbar sind: Drei Milliarden Euro hat dieses fürstliche Maßnahmenpaket gekostet. Mangel wurde von zynischen Nihilisten schamlos als Fülle verkleidet. Drei Tage später setzte sich bei der Nationalratswahl die SPÖ Werner Faymanns durch. Der neue Wendekanzler ist logischer Nachfolger der Haider-Schüsselei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Rabinovici: "Krise der Rechten ist verloren und vorbei"
Europa

Rabinovici: "Krise der Rechten ist vorbei"

Doron Rabinovici, Mitbegründer der Proteste gegen Schwarz-Blau im Jahr 2000, über die Logik der EU-Sanktionen, Europas salonfähige Rechte und Martin Graf.
Zehn Jahre "Wende": War da was? (Ex-ÖVP-Chef Schüssel, -Präsident Klestil und -FPÖ-Chef Haider)
Innenpolitik

Zehn Jahre "Wende": War da was?

Reformen von Schüssels schwarz-blauer Regierung haben die Große Koalition seit 2007 überdauert. Die FPÖ ist nach einem Tief auf dem Vormarsch.
Schuessel und Haider
Innenpolitik

4. Februar 2000: Unten durch

Rückblende: Am 4. Februar 2000 schreitet Schwarz-Blau unterirdisch zur Angelobung. Zehn Jahre danach macht sich "Die Presse am Sonntag" auf den Weg in die Hofburg.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.