Machst du das daheim auch?

(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Es gibt einige rhetorische Klassiker, die laufend eingesetzt werden, um unerwünschtes soziales Verhalten einzudämmen.

„Wenn alle von der Brücke springen, würdest du es auch tun?“ ist dabei wohl das unumstrittene Totschlagargument sämtlicher Eltern, die ihre Kinder maßregeln, welche dem Verhalten mancher Freunde allzu sehr nacheifern. Gerne wird auch der gute alte Immanuel Kant und sein kategorischer Imperativ mehr oder weniger subtil aus der pädagogischen Trickkiste hervorgekramt – „Jetzt stell dir vor, das hätte man mit dir gemacht!“

Und dann gibt es da noch jene Killerphrase, die vor allem im öffentlichen Raum gebetsmühlenartig wiedergekäut wird: „Machst du das daheim auch?“ Die Füße in der Straßenbahn auf den Sitz gegenüber gelegt, den Kaugummi in der U-Bahn-Station ausgespuckt, die Zigarette auf den Gehsteig geschnippt – alles Fälle, in denen zumindest in den Blicken der ordnungsliebenden Bevölkerung dieser Satz mitschwimmt.

Nur in einem Bereich scheint diese Wehrhaftigkeit nicht zu existieren – in Teeküchen am Arbeitsplatz muss man mit derartigen pädagogischen Keulen kaum rechnen. Und so stapelt man schmutzige Teller, Gläser und Besteck zu Türmen babylonischen Ausmaßes, die schon bei kleinen Erschütterungen wie dem Öffnen einer Mikrowellentür der zerstörerischen Wucht der Schwerkraft anheimfallen. Biotope werden angelegt, die selbst Bakteriologen nur noch mit schreckhaft geweiteten Augen und fassungslos geöffnetem Mund anstarren würden. Kollegen bekreuzigen sich dreimal, sobald sie den Raum betreten. Und ich stelle mir bei diesem Anblick jedes Mal schuldbewusst die Killerfrage – aber bin gleich wieder aus dem Schneider. Denn ja, ich mache das zu Hause auch so.


erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.