Schweiz: Das Kreuz mit dem Kreuz

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Verschiedene Elemente der direkten Demokratie finden sich in Verfassungen höchst unterschiedlicher Länder: In der Schweiz ist das Wahlvolk Korrektur und Opposition zur Politik der Regierung.

Ob es um den Umbau der Schule im Dorf, die Erhöhung der Gemeindesteuern oder um einen Staatsvertrag geht: Es gibt kaum eine Sachfrage, über welche die Schweizer nicht an der Urne entscheiden. Mehrmals pro Jahr stimmen die Eidgenossen über politische Fragen auf kommunaler, kantonaler und landesweiter Ebene ab.

Die weltweit wohl einzigartige Volksdemokratie in der Schweiz besteht seit 1848, als die Schweiz zum Bundesstaat in der heutigen Form wurde. Seither nehmen die Schweizer per Volksabstimmung direkt Einfluss auf die Politik. Über gewisse Fragen, wie etwa Verfassungsänderungen, muss zwingend an der Urne abgestimmt werden. Bei manch anderen Gesetzesvorschlägen besteht die Möglichkeit, das sogenannte Referendum zu ergreifen, wofür Gegner der betroffenen Sachfrage binnen einer gewissen Frist 50.000 Unterschriften sammeln müssen. Schließlich können die Stimmbürger auch selbst initiativ werden und mit einer Volksinitiative, für welche 100.000 Unterschriften gesammelt werden müssen, eine Verfassungsänderung fordern. Über jede Volksinitiative muss abgestimmt werden, auch wenn es Regierung und Parlament nicht gefällt. So geht das umstrittene Bauverbot für Minarette, das von Regierung, Parlament und den meisten Parteien abgelehnt worden war, auf eine Volksinitiative zurück.

Der Schweizer „Souverän“

Volksentscheidungen müssen in der Schweiz zwingend umgesetzt werden und sind nicht einfach nur unverbindliche Befragungen, wie sie in anderen Ländern existieren. Nicht umsonst wird das helvetische Stimmvolk auch „Souverän“ genannt, also Inhaber der Staatsgewalt. Der Vorteil der direkten Schweizer Demokratie ist eine ausgesprochene Bürgernähe der Politik. Weil die Stimmbürger jegliche Vorlagen des Gesetzgebers zunichtemachen können, müssen Regierung und Parlament Vorschläge bzw. Kompromisse ausarbeiten, die so ausgewogen sind, dass sie dem Votum der Schweizer standhalten. Aus diesem Grund besteht in der Schweiz auch eine Allparteienregierung ohne Opposition im Parlament, da die eigentliche Opposition von den Stimmbürgern verkörpert wird.

Das Mitspracherecht der Bevölkerung sorgt auch dafür, dass Politik sparsam mit den Steuereinnahmen umgeht. Diese können von Regierung und Parlament weder nach eigenem Gutdünken erhöht noch nach Belieben verwendet werden, da stets die Zustimmung der Bürger notwendig ist.

Die ausgeprägte helvetische Volksdemokratie wirft aber auch die Frage auf, ob der Entscheidungsgewalt der Stimmbürger nicht Grenzen gesetzt werden müssen. Nämlich dann, wenn Volksentscheidungen übergeordnetem Recht widersprechen. Das ist beispielsweise beim umstrittenen Minarettverbot der Fall, das die Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt und möglicherweise in letzter Konsequenz nicht umgesetzt werden kann. Rechtsexperten fordern daher, dass Vorlagen, die völkerrechts- oder menschenrechtswidrig sind, für ungültig erklärt und den Stimmbürgern erst gar nicht zur Abstimmung vorgelegt werden. Was auf heftigen Widerstand der rechtspopulistischen schweizerischen Volkspartei stößt, die der Meinung ist, das Stimmvolk dürfe in seinem Willen nicht beschnitten werden, denn es habe immer recht. Die direkte Demokratie ist zuweilen ein schmaler Grat zwischen Volksherrschaft und Grundrechten, den die Schweizer Stimmbürger gehen müssen. cs

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2010)

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