Interview. Der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe, Panos Moumtzis, schlägt Alarm.
Kairo. „Wenn der Tod die Spitze erreicht, sind die Gräber zu klein“, heißt es in einem syrischen Sprichwort, das derzeit häufig in Ost-Ghouta, einem von der Opposition kontrollierten Vorort von Damaskus, zitiert wird. Dort scheint man derzeit nirgends sicher zu sein. Onlinevideos zeigen chaotische Szenen: Menschen kommen panisch aus den Häusern gelaufen, die Verletzten, darunter auch Kinder, werden zu Krankenwägen gebracht. Währenddessen fallen weitere Bomben. Seit Tagen wird die Gegend von Kampfflugzeugen der russischen Luftwaffe und der Luftwaffe des Regimes von Bashar al-Assad bombardiert. Dutzende Menschen sind laut Syrischer Beobachtungsstelle gestorben.
Ost-Ghouta ist so wie die derzeit heftig umkämpfte Provinz Idlib in Norden des Landes eine der sogenannten Deeskalationszonen. Diese waren mit Russland, dem Iran und der Türkei ausgehandelt worden. Aber das Regime in Damaskus versucht mit Hilfe von Milizen, die vom Iran kontrolliert werden, und Russlands Luftwaffe nun diese von der Opposition gehaltenen Gebiete zu erobern.
„Das sind Reeskalationszonen“
Die Situation dort ist so dramatisch, dass selbst die UNO aufschreit. Sie hatte sich bisher zum Schutz ihrer humanitären Aktivitäten in Syrien eher zurückgehalten.
„Nachdem die Deeskalationszonen geschaffen worden waren, hatten wir zunächst die Hoffnung, dass wir dort Hilfslieferungen hinbringen können. Idlib und Ost-Ghouta sind zwei dieser Deeskalationszonen. Aber in Wirklichkeit sind sie alles andere: Sie sind Reeskalationszonen. Es gibt dort ein dramatisches Anwachsen der Kampfhandlungen und der Not“, sagt Panos Moumtzis, der regionale UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten in Syrien, im Gespräch mit der „Presse“.
Das größte Problem für die UNO sei, im Moment überhaupt Zugang zu den umkämpften Gebieten zu erhalten. Immer, wenn ein Hilfskonvoi organisiert wird, erteilt das Regime in Damaskus keine Genehmigung. „Seit zwei Monaten, seit dem 10. Dezember, haben wir keinen Zugang bekommen“, klagt der UN-Koordinator.
Leben unter Belagerung
Manche Oppositionsgebiete sind von Regierungsgebieten aus erreichbar. „Nehmen wir Ost-Ghouta: In dem von der Opposition kontrollierten Vorort von Damaskus leben 400.000 Menschen unter einer Belagerung. Wir haben seit zwei Monaten keinen Zugang mehr dorthin. 2,9 Millionen Menschen wohnen in solchen belagerten und für uns schwer zugänglichen Gebieten“, sagt Moumtzis.
„Die Menschen dort sind abhängig von unseren Hilfslieferungen. Der Zugang zu Nahrung und Hilfslieferungen sollte niemals dazu verwendet werden, um politischen Druck zu erzeugen“, erklärt der UN-Koordinator.
Auch Evakuierungen sind nicht mehr möglich. Mehr als 700 Schwerverletzte und Kranke hoffen derzeit, von der UNO aus Ost-Ghouta herausgebracht zu werden, erklärt Moumtzis. Bisher ohne Erfolg. „Ost-Ghouta ist ein Vorort von Damaskus. Man müsste nur eine halbe Stunde mit dem Auto fahren und wäre schon in einem Spital“, sagt er und lässt seiner Frustration freien Lauf.
„Wir haben nichts geliefert“
Auch dringend benötigte Hilfslieferungen können nicht in die belagerten Gebiete gebracht werden. „Vergangenes Jahr konnten wir nur 27 Prozent unseres Plansolls in diese belagerten und schwer zugänglichen Gebiete liefern. Damit erhielten schon damals drei Viertel der Leute, die dort leben, keine Hilfe. Denn wir haben keine Genehmigung dafür bekommen.“ Mittlerweile sei das Bild noch düsterer. „Seit 10. Dezember haben wir nichts geliefert – null.“
„Die nächste Flüchtlingswelle“
Auch in der Provinz Idlib, die von der Opposition kontrolliert wird und einer Offensive der Regierungstruppen und massiver russischer Bombardements ausgeliefert ist, sei die Lage dramatisch. „Der Schutz von Zivilisten, Infrastruktur und humanitären Helfern ist lebenswichtig. In Idlib allein gab es 117 Angriffe auf Krankenhäuser“, sagt der UN-Koordinator.
Was dort passiert, könnte auch bald Folgen für Europa haben. Denn die nächste Flüchtlingswelle droht, warnt er. „Wir erleben eine dramatische Verschlimmerung der humanitären Lage. In Idlib leben zwei Millionen Menschen, darunter eine Million, die aus anderen Teilen Syriens geflohen sind.“ Wegen der jüngsten Offensive könnten also demnächst bis zu zwei Millionen Menschen an der türkischen Grenze auftauchen. „Und wenn sie in die Türkei kommen, dann werden einige davon auch früher oder später weiter nach Europa wollen.“
Es gibt einen Widerspruch, sagt Moumtzis. „Einerseits haben wir uns international an den Krieg in Syrien gewöhnt, der kaum mehr Schlagzeilen macht. Andererseits war dort die humanitäre Lage noch nie so dramatisch wie heute.“ Er beschreibt das in Zahlen: „Im Moment befinden sich in Syrien 13 Millionen Menschen in einer unmittelbaren humanitären Notsituation. Es gibt 5,3 Millionen Flüchtlinge in Syriens Nachbarstaaten. Sechs Millionen Menschen sind im Land selbst auf der Flucht, allein in Idlib seit Jänner mehr als 300.000 Personen.“
Extrem chaotische Situation
Erneut kommt seine Frustration zum Vorschein: „Wir sprechen zu tauben Ohren der humanitären Diplomatie. UN-Mitgliedstaaten, Regierungen: Sie alle sollten ihre Möglichkeiten nutzen, Druck auszuüben, um hier etwas zu verändern“, sagt er.
Dann ruft der UN-Koordinator alle Kriegsparteien zu einem Waffenstillstand auf, „damit wir besonders schwer Verletzte oder Kranke herausholen können und um ein wenig Frieden in eine Situation zu bringen, die im Moment extrem chaotisch ist“.
Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass auch dieser neue UN-Vorstoß für eine Feuerpause in Syrien nur auf taube Ohren stoßen wird.
ZUR PERSON
Panos Moumtzis
ist seit September 2017 regionaler UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten in Syrien. Zuvor war er Flüchtlingskoordinator für Syrien und davor für Libyen. [ EPA ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2018)