Die Auflösung der Weltordnung

Der Anblick eines Treffens von Sigmar Gabriel und Sergej Lawrow bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Hotel Bayerischer Hof.
Der Anblick eines Treffens von Sigmar Gabriel und Sergej Lawrow bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Hotel Bayerischer Hof.REUTERS
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Die Europäer machen sich bei der Sicherheitskonferenz im München selbst Mut und geloben, an ihrer Weltpolitikfähigkeit zu arbeiten. Russland und die USA schlagen raue Töne an. Abwesend ist die neue große Weltmacht: China.

Alles löst sich auf. Und niemand weiß so recht, wie es weitergeht. Auch nicht der stattliche Mann im grauen Anzug und der randlosen Brille, der nun im dichtgedrängten Konferenzsaal des Hotels „Bayerischer Hof“ am Podium steht. Sigmar Gabriel soll die Welt erklären. Doch er könnte nicht einmal sagen, wie lange er überhaupt noch deutscher Außenminister bleibt. Wird der Niedersachse der nächsten Bundesregierung angehören? Eher nicht. Es ist nicht einmal klar, ob die Koalition, auf die sich seine SPD und die Union in einem Papier geeinigt haben, zustande kommt.

Über die Flure der Münchner Sicherheitskonferenz jagen Gerüchte und Spekulationen. Etliche deutsche Politiker rechnen mittlerweile insgeheim damit, dass sich die fast 500.000 SPD-Mitglieder am Ende mehrheitlich gegen eine Neuauflage der Großen Koalition aussprechen? Und was dann? Neuwahlen? Eine Minderheitsregierung? Vieles liegt im Nebel. Ausgezählt wird frühestens am 3. März sein. Das politische Schicksal der größten Macht des Kontinents ist fünf Monate nach der Wahl immer noch ungewiss.

Auf der Bühne spricht niemand offen darüber. Und doch ist es eines der Topthemen im Smalltalk an den Bars und in den Nischen des verwinkelten Hotels. Das ist der Reiz dieser Konferenz. Selten sind dermaßen viele internationale Spitzenpolitiker auf derart engem Raum zusammengepfercht. Mehr als zwanzig Staats- und Regierungschefs sind es in diesem Jahr, dazu noch Dutzende Außen- und Verteidigungsminister. Zählt man noch all die Sherpas, die Berater und Kofferträger, all die Experten und Journalisten hinzu, dann tummeln sich mehr als 500 Personen in der hermetisch abgeriegelten Zone im Herzen Münchens.

Kurz plauscht informell mit Lawrow

Sebastian Kurz ist zum fünften Mal dabei, aber heuer erstmals als Bundeskanzler. Im Zimmer 491 hat er sein Basislager im Bayerischen Hof aufgeschlagen, dort empfängt er Journalisten, feilt an seiner Rede, bespricht sich mit seinem Team. Drei Stockwerke darunter hält er, abgeschirmt von Sicherheitsleuten, seine bilateralen Treffen ab, mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, mit dem Brexit-Verhandler der EU, Michel Barnier, mit dem boxenden Bürgermeister von Kiew, Vitaliy Klitschko, mit dem Vorsitzenden des konservativen griechischen Oppositionspartei Nea Demokratia, Konstantin Mitsotakis.

Und zwischendurch wechselt er immer wieder informelle Worte: mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow etwa, der ihm im Atrium über den Weg läuft. Das ganze Hotel ist durchzogen von einem dröhnenden Klangteppich Hunderter gleichzeitig stattfindender Gespräche: ein Klein-Babel in Bayern.

Die Stimmung ist auch schon einmal besser gewesen in diesen Hallen. Die routinierten Manager des Weltgeschehens machen sich echte Sorgen, nicht nur über den europäischen Riesen Deutschland, der auf einmal innenpolitisch taumelt. Wie Blei hat sich auf die Gemüter ein Gefühl globaler Ungewissheit gelegt. Die Welt ist im Umbruch. Es bahnt sich etwas Neues an. Nur wie es am Ende aussehen wird, kann keiner sagen.

Soll man die USA an Taten oder Tweets messen?

Sigmar Gabriel, der deutsche Außenminister auf Abruf, erklimmt an diesem Samstag als Erster die Bühne im pastellfarbenen Konferenzsaal. Die Töne, die er anschlägt, sind düster. Die liberale Weltordnung zerbröckle und verschiebe sich. China sei gerade dabei, ein Alternativsystem zu errichten – ohne Menschen- und Freiheitsrechte. Ins Gericht mit der kommunistischen Führung in Peking will Gabriel da gar nicht länger gehen. Es sei ihr gutes Recht, beharrlich eine globale Idee zu verfolgen. Doch Europa müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, keine solche Strategie zu haben. Und die USA? Eine Spitze in Richtung Donald Trump kann und will sich Gabriel nicht verkneifen: „Woran sollen wir die USA messen? An den Worten, den Taten oder an den Tweets?“

Gabriel appelliert an Europa, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Möglicherweise ist das hier seine Abschiedsvorstellung, ganz sicher ist es ein Plädoyer, die EU stärker und handlungsfähiger zu machen. Europa sei nicht als Weltmacht geschaffen worden, sondern als ein - höchst erfolgreiches - Versöhnungsprojekt einstiger Feinde. In Zukunft aber müsse Europa lernen, auch Macht zu projizieren. Und dazu würden auch militärische Fähigkeiten gehören. „Wir können unter Fleischfressern nicht als einzige Vegetarier bleiben“, sagt ausgerechnet einer, der sonst gerne den Pazifisten gibt. Nicht nur Russland und China, auch die USA würden immer wieder versuchen, die EU zu testen und zu spalten. Von einem Freund müsse man anderes erwarten.

Ohne Kooperation mit den USA aber werde Europa die Architektur der Freiheit nicht aufrechterhalten können. Die Welt stehe am Scheideweg. „Ist das der Beginn des asiatischen Zeitalters, das Ende des Westens?“ fragt er. „Oder bringt der Kontinent den Mut auf, sich nicht aus der Welt zurückzuziehen?“ Deutschland kann das nicht alleine schaffen, das weiß und sagt Gabriel. Der neuen Welt kann Europa seinen Stempel nur gemeinsam aufdrücken. Das formuliert der deutsche Außenminister am Ende mit aller Drastik und einem Zitat von Benjamin Franklin: „We must all hang together or we will hang separately.“

May will pragmatische Zusammenarbeit

Für einen Alleingang in eine ungewisse Zukunft haben sich die Briten in einem Referendum entschieden. Doch wer Theresa May bei der Münchner Sicherheitskonferenz zuhört, muss den Eindruck gewinnen, dass sie irgendwie auch nach einem Austritt Mitglied der EU bleiben will. Die Premierministerin plädiert für eine pragmatische Zusammenarbeit, beim Handel, bei außenpolitischen Fahnenfragen wie der Verhängung von Sanktionen, bei Rüstungsprojekten, vor allem aber in puncto Sicherheit: im Kampf gegen Terroristen und Verbrecher ebenso wie bei der Verteidigung. Bis Ende 2019 möchte sie ein umfassendes Sicherheitsabkommen mit der EU unter Dach und Fach bringen.

„Es ist unsere oberste Pflicht als Regierende, unsere Bürger zu schützen“, sagt sie und bietet der EU eine Fortsetzung der Zusammenarbeit an. Wolfgang Ischinger, der Chef der Sicherheitskonferenz, fragt sie danach, warum Großbritannien dann nicht gleich EU-Mitglied bleibt. Applaus brandet auf. May muss dem Publikum daraufhin erklären, dass man das britische Volk nicht einfach so lange abstimmen lassen könne, bis ein genehmes Resultat herauskommt. Das Ergebnis des Brexit-Referendums müsse nicht nur respektiert werden. Es sind verschiedene Vorstellungen von Demokratie, die da für einen Moment frontal im Saal zusammenprallen.

Juncker beklagt mangelnde Weltmachtfähigkeit Europas

Auf Kuhhandel nach dem Motto „Tausche Sicherheitsabkommen gegen EU-Goodies“ mag sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gar nicht erst einlassen. In den Brexit-Gesprächen werde ein Thema nach dem anderen abgehandelt und nichts miteinander verknüpft. Es wäre wohl die weltweit erste Verhandlung dieser Art.

Unverblümt spricht der Luxemburger über die mangelnde Weltmachtfähigkeit Europas. Er setzt sich dafür ein, dass Einstimmigkeitsprinzip in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik abzuschaffen. So könne Europa keine Weltpolitik machen. Das sei derzeit deutlich zu sehen im Umgang mit China oder Israel. In beiden Fällen habe die EU keine einheitliche Linie.  Die Kommission werde deshalb Vorschläge für die Einführung qualifizierter Mehrheiten vorlegen. Den EU-Vertrag müsse man dafür gar nicht ändern. Nach Artikel 31 könne dies der EU-Rat beschließen. Freilich nur einstimmig.  

Sebastian Kurz' Vision der EU

In die Reformdebatte steigt wenig später Sebastian Kurz. In seiner Rede skizziert er seine Vision für die EU. Europa sei an verschiedenen Abzweigungen falsch abgebogen und spiele eine immer kleinere Rolle, sagt er. Österreichs Kanzler empfiehlt, dass sich die EU auf das Wesentliche konzentrieren und vom Klein-klein verabschieden sollte. „Wir versuchen mit enormem Aufwand, in den kleinen Dingen alles gleichzuschalten, während wir in den fundamentalen großen Fragen keine gemeinsame Linie mehr finden.“ Doch er bringt mehr als eine Variation seines Subsidiaritätsmantras und seiner wiederkehrenden Aufforderungen, die EU-Außengrenzen zu schützen. Ausgerechnet der Bundeskanzler des neutralen Österreichs schließt sich dem Ruf nach einer verstärkten militärischen und polizeilichen Kooperation an.

Schlanker soll Europa seinem Wunsch nach werden, mit nur halb so vielen Kommissaren wie jetzt und vor allem mit weniger Regulierungen. Für leichte Irritation sorgt zeitverzögert sein Aufruf zur Verteidigung des jüdisch-christlichen Europas. Ob das der Integration (von Muslimen) förderlich sei, fragt in der nächsten Session ein Direktor einer Denkfabrik den französischen Premier. Edouard Philippe geht kaum darauf ein und verweist lediglich auf den Laizismus in seinem Staat. Auf der Bühne entgeht Kurz kritischen Fragen. Mit ihm ist der Premier Mateusz Morawiecki auf dem Podium; und der Pole zieht alle Pfeile auf sich, muss zum umstrittenen Holocaust-Gesetz seiner Regierung Stellung nehmen und provoziert selbst, als er sagt, dass Europa „more steele tanks than think tanks“ brauche („mehr Panzer als Denkfabriken“).

Ein Hauch Kalter Krieg

Als Sergej Lawrow das Wort ergreift, weht auf einmal mehr als nur ein Hauch Kalter Krieg durch den Saal. Und auch ein wenig Ennui, der russische Außenminister wiederholt sich. Er kennt nur einen Schuldigen für die Verschlechterung der Beziehungen: den Westen, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wie einen Schüler behandelt und bei der Nato-Osterweiterung hinters Licht geführt habe. Und jetzt sei der Westen nicht bereit, den neuen weltpolitischen Einfluss Russlands anzuerkennen. In großzügiger Geste bietet Lawrow den Europäern Kooperation an. Eine starke und berechenbare EU sei im Interesse seines Landes, sagt er. Auch mit den USA sei eine Zusammenarbeit nötig, um eine neue Sicherheitsarchitektur im Nahen Osten zu schaffen; dort hat Moskau seinen syrischen Verbündeten Bashar-al-Assad in den vergangenen Monaten mit einer Militärintervention auf die Siegerstraße gebracht.

Wenig später offeriert Konstantin Kossatschow, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Oberhaus des russischen Parlaments, den Amerikanern, ein gemeinsames Regularium für den sogenannten Cyber-Krieg zu entwickeln. Darüber kann US-Sicherheitsberater Herbert McMaster nur lachen. „Ich zweifle, ob sie genug Experten zur Verfügung haben. Die meisten davon waren zuletzt ja vor allem damit beschäftigt, unsere Demokratie zu unterwandern.“

Eisenharter Auftritt von US-Sicherheitsberater McMaster

Der US-General tritt eisenhart auf. Als oberste Ziele seiner Regierung bezeichnet er es, Terroristen zu vernichten und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern. McMaster fordert die Weltgemeinschaft trotz des olympischen Tauwetters auf, alle Handelsbeziehungen zu Nordkorea zu kappen und Gastarbeiter auszuweisen. Syriens Machthaber Assad müsse zur Rechenschaft gezogen werden für den fortgesetzten Einsatz chemischer Waffen. Auf die Liste von Schurkenstaaten setzte er zudem implizit den Iran. Es sei Zeit, fundamentale Schwächen im Atomabkommen mit dem Iran zu beheben und dessen wachsenden Einfluss in der Region zu zurückzudrängen. 

Und auch für den Kreml hatte der US-Sicherheitsberater noch eine Botschaft parat. Moskaus verletze den Mittelstreckenraketenvertrag, aber: „Die USA werden nicht zulassen, dass Russland Zentraleuropa als Geiseln nimmt.“ Auf einmal klingt alles wieder nach ganz alter Weltordnung, die schon lange nicht mehr existiert. Lediglich geisterhaft ist die große neue Macht auf der Weltbühne zu spüren, als unsichtbarer Elefant im Bayrischen Hof. China ist bei der Sicherheitskonferenz auf groteske Weise unterrepräsentiert. Das verleiht der ganzen Veranstaltung einen Phantomcharakter.

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