Berlinale

Das Utøya-Attentat als Erlebnisfilm

Die Kamera bleibt Kaja (Andrea Berntzen) dicht auf den Felsen, stolpert mit ihr, kauert mit ihr im Gebüsch: Wozu das? Man wittert eine kalkulierte Kontroverse.
Die Kamera bleibt Kaja (Andrea Berntzen) dicht auf den Felsen, stolpert mit ihr, kauert mit ihr im Gebüsch: Wozu das? Man wittert eine kalkulierte Kontroverse.(c) Agnete Brun
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Der norwegische Film"Utøya 22. Juli" lässt das Breivik-Attentat Revue passieren - effekthaschend, in Echtzeit, aus Opferperspektive. So soll sich der Terror "angefühlt" haben?

Nicht nur die Oscar-Verleihung, auch der Berlinale-Wettbewerb ist heuer von Filmen bestimmt, die Brücken zu historischen Wirklichkeiten schlagen: Viele Filme basieren direkt oder indirekt auf wahren Begebenheiten. Darunter finden sich poetische Atmosphärenbeschwörungen wie „Dovlatov“ von Alexey German Jr., der das zwangsfrustrierte sowjetische Künstlermilieu der Siebziger in nebeligen Bildern neu aufleben lässt. Oder komprimierte Biopics wie die schöne Romy-Schneider-Ehrerbietung „3 Tage in Quiberon“. Keine dieser Arbeiten maßt sich an zu wissen, wie das, was sie abbildet, „wirklich war“. Bis auf eine: Erik Poppes „Utøya 22. Juli“.

Der Film handelt vom Anschlag des norwegischen Rechtsextremisten Anders Breivik auf das Inselferiencamp einer sozialdemokratischen Jugendorganisation im Juli 2011. 69 Menschen fielen dem Attentat zum Opfer. Es dauerte ungefähr 90 Minuten. Ob sich Poppe wohl gedacht hat: Die perfekte Spielfilmlänge? Seine Rekonstruktion der Ereignisse verläuft jedenfalls in Echtzeit – und einer einzigen, ungebrochenen Einstellung. Diese bleibt stets an der Seite der Jugendlichen Kaja (stark: Andrea Berntzen), wie alle Figuren ein Kompositum aus Zeugenberichten. Das erfährt man aber erst am Schluss. Davor wähnt man sich beinahe in einem faktengetreuen Reenactment.

Am Anfang stehen tatsächlich reale Aufnahmen der Explosionen, die Breivik vor seiner Attacke in Oslo zündete, begleitet von ominöser Musik. Dann tritt Kaja ins Bild und sagt Richtung vierter Wand: „Du wirst es nie verstehen.“ Sie telefoniert mit ihrer Mutter, gemeint ist aber ist das Publikum. Kurz darauf macht sich der Film daran, alles verständlich zu machen. Zehn Minuten Ferienalltag, Teenagergespräche über Terrorismus, dann geht's los. Schüsse fallen im Off, Panik bricht aus, alle ergreifen die Flucht, suchen Schutz in Felsspalten oder im umliegenden Wald. Die Kamera heftet sich an Kajas Fersen und agiert wie ein stummer Begleiter: Sie blickt sich mit ihr hastig um, stolpert, fällt zu Boden, kauert im Gebüsch, lugt vorsichtig aus der Deckung. Als Zuschauer soll man eins mit ihr werden: pures Erfahrungskino, stellenweise durchaus virtuos.

Szenen wie aus einem Teenie-Slasher

Aber was genau erfährt man hier? Wie sich das „wirklich“ angefühlt hat, auf einer Insel von einem Mörder verfolgt zu werden? Dazu ist die siebte Kunst, bei aller Liebe (und zum Glück), nicht fähig. Ebenso wenig, wie man aus „Son of Saul“ von László Nemes – formal ähnlich angelegt – „erfährt“, wie sich Auschwitz „angefühlt“ hat. Nemes' Oscar-prämierter Film ist ebenso strittig wie „Utøya“, hat diesem aber eine ausgeklügelte, hochgradig reflektierte Inszenierung voraus. Poppe hingegen übertrifft jeden Genre-Reißer in puncto schamloser Manipulation: Immer wieder zoomt er ruckartig auf verstörte Gesichter oder verstellt die Schärfe, damit man deutlich erkennen kann, wie ein Anruf der Mutter auf dem Handy ihrer toten Tochter eingeht. Einzelmomente unterscheiden sich kaum von Spannungsszenen aus Teenie-Slashern. Dass Breivik nur als bedrohliche Silhouette durchs Bild huscht – eine bewusste Diskretionsgeste wider den perfiden Ruhm des Attentäters – verstärkt diesen Eindruck nur.

Der gute Zweck heiligt die Effekthascherei. Aber wieder fragt man sich: Welcher Zweck? Den Opfern ließe sich ein filmisches Denkmal auch auf andere Weise setzen – auf eine, die thematisiert, wie es zur Schreckenstat kommen konnte, welches Gedankengut ihr zugrunde lag. „Utøya“ wurde von der Berlinale relativ spät ins Programm genommen. Angesichts des gewohnt schalen Wettbewerbs glaubt man fast: damit die Leute was zum Reden haben. Natürlich entzündete der Film Debatten. In der „Zeit“ fragte man etwa: „Wie verfilmt man ein Massaker?“ Eine mögliche Antwort: Gar nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2018)

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