Innenministerin Rudd geißelt „dreisten und unverantwortlichen“ Anschlag auf russischen Ex-Spion, vermeidet aber Schuldzuweisungen an Russland – noch.
London. Die britische Regierung verschärft den Ton im Fall des ehemaligen russischen Geheimagenten Sergej Skripal. Innenministerin Amber Rudd sprach vor dem Unterhaus in London gestern, Donnerstag, erstmal von einem „Mordversuch in der grausamsten und öffentlich sichtbarsten Weise“. Zuvor hatten die Ermittler stets vermieden, das M-Wort zu verwenden, und von einem „schweren Zwischenfall“ gesprochen.
Dafür vermied Rudd ein anderes M-Wort, nämlich Moskau. Ungeachtet aller Spekulationen über die Hintergründe des „dreisten und unverantwortlichen Anschlags“ (so die Innenministerin) auf den 66-jährigen Skripal und seine 33-jährige Tochter Julia am Sonntag betonte sie: „Die Untersuchung muss auf Tatsachen basieren, nicht auf Gerüchten.“
Sehr seltenes Nervengift
Diese bleiben weiter dünn gesät. Die Behörden teilten Mittwochabend mit, dass die Tat mit einem „sehr seltenen“ Nervengas verübt worden sei. Um welches es sich handelt, blieb vorerst unbekannt. Allerdings wurden sowohl Sarin, das in Syrien eingesetzt wurde, als auch VX, mit dem im Vorjahr der Halbbruder des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un ermordet worden war, ausgeschlossen. Fest stand nach Expertenangaben: „Es handelt sich nicht um einen Stoff, den ein Bastler in seinem Gartenschuppen herstellen kann.“
Auch wenn sich die britische Regierung mit direkten Anschuldigungen an Russland zurückhielt, verlautete aus Ermittlerkreisen, die bisherige Faktenlage lasse auf „staatlich gesteuerte Akteure“ schließen. Die Regierung sprach von einem „abstoßenden Verbrechen“.
Vater und Tochter Skripal ringen weiter um ihr Leben. Ein Polizeioffizier, der als erster am Tatort eingetroffen war und in den vergangenen Tagen ebenfalls eine dramatische Verschlechterung seines Gesundheitszustands erlitten hatte, befindet sich indes auf dem Weg der Besserung: Er sei in „stabilem Zustand und bei vollem Bewusstsein“, erklärte die lokale Polizei.
Während weiterhin „Hunderte Ermittler“, so Innenministerin Rudd, an einer Aufklärung des Falls arbeiten, beschäftigen die britische Öffentlichkeit weiter die Parallelen zum Mordfall Litwinenko. Der Exagent war 2006 in London von einem russischen Kommando vergiftet worden. Eine britische Untersuchung macht den russischen Präsidenten, Wladimir Putin, als Auftraggeber verantwortlich.
Doch es gibt auch klare Unterschiede zwischen den Fällen. Alexander Litwinenko war 2000 aus Russland geflüchtet, hatte in Großbritannien politisches Asyl erhalten und von London aus höchst aktiv gegen das russische Regime unter Putin agitiert. Skripal durfte seine Heimat in einem offiziellen Gefangenenaustausch verlassen, wurde offiziell amnestiert und lebte zurückgezogen in der Kleinstadt Salisbury im Südwesten Englands.
Spekulationen, dass er weiter den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 mit Informationen belieferte, erhärteten sich vorerst nicht. Gerüchten zufolge soll er Namen von Agenten preisgegeben haben. Gleichzeitig war er aber nach seiner Verhaftung in Russland 2004 jahrelang von Informationen abgeschnitten. Der britische Diplomat Christopher Meyer warnte: „Es ist leicht, voreilige Schlüsse zu ziehen, denn Putin unterteilt die Welt in Feinde und Verräter. Gegen Feinde hat er nicht viel einzuwenden, aber Verräter will er ausschalten.“
Russische Botschaft: „Provokation“
Warum aber damit, wie im Fall Skripal, fast 14 Jahre warten? Die russische Botschaft in London wies jede Verwicklung Moskaus zurück und sprach von einer „Provokation“. Sollte sich das Gegenteil herausstellen, drohte Rudd mit einer „robusten“ Antwort: „Wir werden alles tun, um die Täter vor Gericht zu bringen – wer und wo immer sie sind.“
Andere sind sich da nicht so sicher. Meyer wies darauf hin, dass die diplomatischen Schritte nach dem Litwinenko-Mord letztlich folgenlos blieben. Ernste Sanktionen will Großbritannien aber auf jeden Fall vermeiden, ist London doch in den letzten 15 Jahren zu einem Magnet für russische Oligarchen und ihre Milliarden geworden. Der US-Investor Bill Browder, der zu jenen gehört, die hier Zuflucht vor dem langen Arm des Kreml suchen, sagt: „Die Briten haben es zugelassen, dass Russland glaubt, hier ungestraft zuschlagen zu können.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2018)