VfGH hebt Mindestsicherungs-Regelung in Niederösterreich auf

Die Presse
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Die Mindestsicherungs-Regelung des Bundeslandes mit einer von der Dauer des Aufenthalts in Österreich abhängigen Wartefrist sei "unsachlich und daher verfassungswidrig", stellt das Höchstgericht fest. Eine Reparaturfrist gibt es keine.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in der Märzsession weitere Klarstellungen zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung getroffen. Eine von der Dauer des Aufenthalts in Österreich abhängige Wartefrist für die Mindestsicherung in voller Höhe und eine starre Deckelung der Bezugshöhe bei Haushalten mit mehreren Personen im niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetz (NÖ MSG) "sind unsachlich und daher verfassungswidrig".

Die Aufhebung der Regelung in Niederösterreich erfolgte ohne Reparaturfrist. Die aufgehobenen Bestimmungen seien nicht mehr anzuwenden.

Die niederösterreichische ÖVP bezog zu der Entscheidung bereits Stellung: "Die vom Verfassungsgerichtshof heute getroffene Entscheidung nehmen wir selbstverständlich zur Kenntnis", sagte Klaus Schneeberger, Klubobmann der ÖVP im St. Pöltner Landtag. Er kündigte an, dass sich das Landesparlament mit den notwendigen Änderungen des Mindestsicherungsgesetzes "so rasch wie möglich" befassen werde.

Der designierte Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ), der künftig für die Materie in der Landesregierung zuständig sein wird, sagte, die FPÖ nehme die Aufhebung zur Kenntnis. Waldhäusl will in diesem Zusammenhang auch das Thema Staatsbürgerschaft diskutieren. "Wenn es nach mir geht, soll diese generell erst nach zehn Jahren erlangt werden können."

Im Konkreten ging es bei der VfGH-Entscheidung um zwei Paragrafen des NÖ MSG:

  • Laut Paragraf 11a des niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetzes betragen die Mindeststandards-Integration zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes für Hilfe suchende Personen, die sich innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufgehalten haben, maximal 522,50 Euro.

  • Nach Paragraf 11b wird der Mindestsicherungsbezug aller Personen, die gemeinsam in einer Haushalts- oder Wohngemeinschaft leben, mit 1500 Euro gedeckelt.

Das Landesverwaltungsgericht hatte wegen dieser beiden Paragrafen 2017 eine Aufhebung wegen Verfassungswidrigkeit beim VfGH beantragt. Mehr als 160 Anträge des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich an den VfGH standen dahinter - ihnen liegen jeweils Beschwerden von Personen zugrunde, die nach der seit 1. Jänner 2017 geltenden Rechtslage eine geringere Mindestsicherung zugestanden bekommen haben.

"System verfehlt eigentlichen Zweck"

Wörtlich heißt es in der Entscheidung vom 7. März 2018: "Das mit § 11b NÖ MSG geschaffene System [Deckelung, Anm.] nimmt keine Durchschnittsbetrachtung vor, sondern verhindert die Berücksichtigung des konkreten Bedarfes von in Haushaltsgemeinschaft lebenden Personen. Dadurch verfehlt dieses System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ab einer bestimmten Haushaltsgröße seinen eigentlichen Zweck, nämlich die Vermeidung und Bekämpfung von sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen."

Zur Frage der Deckelung verwies der Gerichtshof auf seine bisherige Rechtsprechung: "Auch wenn die Lebenshaltungskosten pro Person bei zunehmender Größe der Haushaltsgemeinschaft abnehmen mögen, so ist doch immer noch je weitere Person ein Aufwand in einiger Höhe erforderlich." Es gebe also keinen sachlichen Grund, richtsatzmäßige Geldleistungen für eine Haushaltsgemeinschaft ab einer bestimmten Anzahl von Haushaltsangehörigen abrupt zu kürzen.

Der Gerichtshof habe sich "nicht veranlasst" gesehen, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Das System der niederösterreichischen Mindestsicherung stellt grundsätzlich auf den konkreten Bedarf der betroffenen Personen ab. Die Deckelung hingegen begrenzt den Anspruch "in Abkehr" von diesem System unabhängig von der Zahl der Personen mit einem fixen Betrag. Wörtlich heißt es in dem Erkenntnis: "Damit hat der niederösterreichische Gesetzgeber eine unsachliche Regelung geschaffen: Wenngleich 1.500 Euro für bestimmte Haushaltskonstellationen ausreichend sein können, verhindert das NÖ MSG eine einzelfallbezogene und damit sachliche Bedarfsprüfung."

Regelung auch in Hinblick auf Asylberechtigte unsachlich

Neben der Deckelung betrafen die Anträge des Landesverwaltungsgerichts auch die Wartefrist (§ 11a NÖ MSG). Wer sich nicht mindestens fünf der vergangenen sechs Jahre in Österreich aufgehalten hat, kann unabhängig von der Staatsbürgerschaft statt der Mindestsicherung nur eine geringere Leistung gemäß den "Mindeststandards - Integration" beziehen. Ausnahmen gelten für in Österreich geborene Kinder von voll Anspruchsberechtigten und für Personen, die Österreich für Ausbildungszwecke oder aus beruflichen Gründen verlassen haben. Die niederösterreichische Landesregierung begründe die Wartefrist mit dem Erfordernis der Integration sowie der Setzung eines Anreizes zur Arbeitsaufnahme.

Dem hält der VfGH entgegen, dass die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft eine vorhandene Integration bereits voraussetze. Die Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer könne auch nicht mit einem Anreiz zur Arbeitsaufnahme begründet werden: "Für den Verfassungsgerichtshof ist nicht erkennbar, weshalb österreichische Staatsbürger, die innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufhältig waren, einen stärkeren Arbeitsanreiz benötigten, zumal der bloße Aufenthalt im In- oder Ausland keinerlei Rückschluss auf die Arbeitswilligkeit der Person zulässt."

Die Regelung führe daher zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung österreichischer Staatsbürger untereinander je nach Aufenthaltsdauer in Österreich innerhalb der letzten sechs Jahre. Die Anknüpfung an die Aufenthaltsdauer in Österreich sei zudem im Hinblick auf Asylberechtigte - also Personen, denen internationaler Schutz bereits zuerkannt wurde - unsachlich: "Asylberechtigte mussten ihr Herkunftsland wegen 'wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden' verlassen und können aus denselben Gründen (derzeit) nicht dorthin zurückkehren. Asylberechtigte können daher im vorliegenden Zusammenhang nicht mit anderen Fremden (Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen), denen es frei steht, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren, gleichgestellt werden", so der VfGH.

(APA)

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