Krimi: Bella Napoli, brutta Napoli

Maurizio de Giovanni reiht sich unter die Krimischriftsteller ein, die Neapel ein literarisches Denkmal setzen.
Maurizio de Giovanni reiht sich unter die Krimischriftsteller ein, die Neapel ein literarisches Denkmal setzen. (c) Mario Spada
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In seinen Krimis zeichnet Maurizio de Giovanni ein vielschichtiges Porträt der süditalienischen Metropole, in der Arme neben Reichen und Gauner neben ehrenwerten Bürgern leben.

Vielleicht ist die Erde doch eine Scheibe? Wie anders wäre es zu erklären, dass sich die halbe Menschheit von einem kreisrunden, flachen Gericht zu ernähren scheint, das angeblich in Neapel erfunden worden ist? Ist dieser Siegeszug anders zu erhellen als durch die Vermutung, dass so eine Pizza eben ein Abbild unserer Welt ist? Die Hymne „Napule“ von Gigi D'Alessio deutet darauf hin. Jedenfalls muss es einen Grund geben, warum es auf der ganzen Welt, ob sie nun flach oder rund ist, Restaurants mit dem verheißungsvollen Namen „Bella Napoli“ gibt.

Mindestens ebenso bekannt wie für ihre malerische Schönheit, ihre einzigartige Lage und ihr unvergleichliches historisches Erbe ist die süditalienische Hafenstadt aber auch als Ort der Gesetzlosigkeit, der Verwahrlosung und der Grausamkeit. Von Curzio Malapartes „Die Haut“ bis Roberto Savianos „Gomorrha“ reichen über die Jahrzehnte die Beschreibungen einer Gesellschaft, in der nichts anderes als das Gesetz des Dschungels zu herrschen scheint. Zuletzt platzierte Elena Ferrante Neapel endgültig auf dem Atlas der Weltliteratur.

Dieses schreckliche, brutale und grausame Neapel – „brutta Napoli“ – spielt auch die Hauptrolle in den Kriminalromanen von Maurizio de Giovanni. „Die Taschendiebe sind blitzschnell, ob zu Fuß oder zu zweit auf ihren frisierten Rollern, sie haben die Alten, Schwachen und Zerstreuten genau im Blick, schnappen sich, was sie kriegen können, und verschwinden im Labyrinth der Gassen, das sie wie ihre Westentasche kennen und wo sie sich innerhalb von Sekunden in ihre Schlupflöcher zurückziehen können“, heißt es in „Frost in Neapel“, dem jüngsten auf Deutsch erschienen Buch in der Serie um Inspektor Lojacono.

Der aus Sizilien strafversetzte Ermittler und seine Kollegen haben es allerdings mit schwereren Kalibern als mit Taschendieben zu tun: Mord und Totschlag ziehen sich durch die Bücher, weder vor Kindern noch vor Alten macht das Verbrechen halt. Lojacono, den sie wegen seiner mandelförmigen Augen „den Chinesen“ nennen, gehört zu den „Gaunern von Pizzofalcone“, wie sich das Team des Kommissariats im Zentrum von Neapel trotzig-stolz selbst nennt. Ihre Vorgänger haben mit Verwicklungen in den Drogenhandel den ohnehin beschädigten Ruf der Polizei scheinbar vollends ruiniert, unter der Leitung von Kommissar Palma ist nun eine neue Truppe im Einsatz.


Strafposten für Ermittler. Die meisten von ihnen sind nicht freiwillig hier, sondern wurden wegen Intrigen, Vergehen oder Versagen an die neue Dienststelle Neapel berufen. Sie sind hier auf Bewährung, und der Ballast, den sie mit sich schleppen, ist nicht nur beruflicher Natur: wie etwa bei Ottavia mit ihrem autistischen Sohn, die ihren aufopferungsvollen Mann nicht mehr erträgt; Romano, der seine Wut nicht kontrollieren kann, seine Frau geschlagen und deshalb verloren hat; Pisanelli, der unbeirrbar einer rätselhaft Selbstmordserie nachgeht; oder Alex, die von ihrem Vater, einem General, das Schießen gelernt hat und den Eltern nicht zu sagen wagt, dass sie Frauen liebt.

Maurizio de Giovanni besticht aber nicht nur in der Zeichnung der einzelnen, sondern auch des Zusammenspiels des Teams. Ähnlich vielschichtig legt er stets auch die Handlung an: Immer gibt es mehr als einen Erzählstrang, die Perspektiven wechseln. So kommen auch Personen zu Wort, deren Selbstreflexionen wichtige Hinweise auf den oder die Täter geben – oder den Leser vom Ziel ablenken.

Der Neapolitaner de Giovanni hat seine Heimatstadt in der Pizzofalcone-Serie (im Original liegen bereits sechs Bände vor) und in seinen Büchern um den sagenhaften Commissario Ricciardi verewigt. In Italien sind sie Bestseller, die Verfilmungen wahre Straßenfeger. Zu Recht. De Giovanni stellt Gegenden vor, die „so erbärmlich sind, dass sich nicht einmal mehr Ratten hierher verlieren“, und Bezirke von solchem Reichtum, „dass einem der Atem wegbleibt“. Gauner leben neben Ehrenmenschen, Arme neben Reichen und Gute neben Bösen. All das ist Neapel. Und noch viel mehr.

Neu Erschienen

Maurizio de Giovanni
„Frost in Neapel“

Übersetzt von Olaf M. Roth und Susanne Van Volxem
Kindler
384 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2018)

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