Selmayrs Selbstverteidigung in der Brüsseler Blase

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Der umstrittene Kabinettschef von Kommissionspräsident Juncker hat sich zu Wort gemeldet: "Ich bin erstaunt darüber, was ich teilweise über mich lese."

Seit einem Monat blubbert es in der Brüsseler Blase ganz gehörig, wenn der Name "Martin Selmayr" fällt. Der Kabinettschef von Kommissionspräsident Juncker habe seine Bestellung zum Generalsekretär der Kommission mit rechtswidrigen Mitteln herbeiintrigiert, den Kommissaren, die diese Personalentscheidung am 21. Februar im Eiltempo trafen, mit dem unmoralischen Angebot einer erhöhten Pension samt Chauffeur, Büro und Assistenten den Willen gebogen, und flugs war das ebenso knackige wie abgegriffene Signet #Selmayrgate geboren und in die Welt der sozialen Medien geschossen.

Von Selmayr hat man seither kein Wort dazu gehört, am Montagabend sprach er erstmals öffentlich über sein berufliches Avancement an die Spitze der Brüsseler Behörde. "Ich bin erstaunt darüber, was ich teilweise über mich lese", sagte er im Rahmen einer Diskussion mit dem Wiener Schriftsteller Robert Menasse, die vom Brüsseler Vertretungsbüro des Landes Hessen veranstaltet wurde. "Es wären Kommissare bestochen worden mit höheren Pensionsansprüchen", nannte er den bedenklichsten Vorwurf. Abgesehen davon, dass der Rat, also die Mitgliedstaaten, über alle Fragen im Zusammenhang mit dem Unionsbudget das letzte Wort sprechen, sei das ein Affront: "Man unterschätzt da die Kommissare. Es gibt nichts, womit sie bestochen hätten werden können."

Trocken parierte er die Kritik an seiner Bestellung: "28 Kommissare saßen am Tisch und sagten: wir wollen den Selmayr. So darf die Kommission wohl entscheiden." Und dann stellte er in den Raum, dass es Kräfte gebe, die seine Desavourierung in den Medien betrieben: "Irgendjemand hat ein Interesse, die Europäische Kommission schlecht aussehen zu lassen." Aber wer? Die Juncker-Kommission stehe "für Solidarität mit Fluchtlingen" und habe die Griechenland-Rettung verhandelt, was sie in Deutschland nicht populär mache. Sie verteidige zudem den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gegenüber der Regierung Polens und ringe mit London um die Bedingungen des Brexit, sei also auch im Visier von ihr feindlich gesinnten polnischen und britischen Kräften.

Spätestens an diesem Punkt muss man einhaken und sagen: Moment. Gewiss ergötzen sich die EU-feindlichen Medien in London und Warschau besonders wohlig an jeder neuen, noch so unwesentlichen Offenbarung über Selmayrs Ernennung und sein Gebaren (die neueste "Spiegel"-Enthüllung: der neue Generalsekretär redigiert selbst seinen Wikipedia-Eintrag - um drei Uhr morgens, zwischen Weihnachten und Neujahr). Doch die ursprüngliche Aufklärung darüber, dass seine Ernennung zum mächtigsten EU-Beamten gar allzu schnell vonstatten ging, stammte von Jean Quatremer, dem gewiss nicht europafeindlichen Korrespondenten der französischen Zeitung "Libération".

Ganz geschickt in Hinblick auf die Außenwirkung ist es auch nicht, wenn Selmayr über seinen Aufstieg klagt: "Ich verdiente heute so viel wie im Jänner, und ich arbeite doppelt so viel. Wo da die Beförderung ist, das möchte ich einmal sehen", sagte er. Hoch bezahlte, steuerbefreite Eurokraten, die sich über Arbeitsdruck beschweren: so stellt sich der kleine Mann von der Straße "die da oben in Brüssel" ohnehin vor, man muss seinem Ressentiment keine zusätzliche Nahrung zufüttern.

Zumal Selmayr vieles denkt und sagt, das man sich angesichts Europas Lage zu Herzen nehmen sollte. Die Karikatur eines blindwütigen Europaföderalisten, welche mancherorts von ihm gezeichnet wird, ist völlig vermessen, warnt er doch vor der "Gefahr eines Europas, das arrogant auf die Mitgliedstaaten herabschaut." Sichtlich zur Enttäuschung Menasses sagte Selmayr am Montagabend auch, er "glaube nicht, dass die europäische Republik, der europäische Bundesstaat, die einzige Antwort" auf den gärenden Populismus sei.

"Mir ist es lieber, zwei Jahre an einem europäischen Gesetz zu arbeiten, als in drei Monaten einen Krieg vom Zaun zu brechen", hielt Selmayr dem angesichts des Klein-Klein, des kompromisshaft langsamen Entscheidens in Brüssel entnervten Literaten entgegen. Vor ein paar Jahren hätte man das noch als unrealistische Alternative abtun können. Heute hingegen, angesichts des drohenden Handelskrieges mit den USA und eines kraft seiner Wiederwahl in seinem militaristischen Abenteuertum bestärken russischen Präsidenten, klingt diese Feststellung tröstlich.

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