Start-ups und Digitalisierung krempeln ganze Branchen um und gestalten die Attraktivität einer Region mit. Damit wundert es kaum, dass Politik und Länder händeringend versuchen, die Talente für sich zu gewinnen. Doch warum gründen Jungunternehmer gerade in Niederösterreich, wenige Kilometer abseits der „lebenswertesten Stadt der Welt“ und wie entwickeln sie sich?
Die niederösterreichische Landesregierung will den digitalen Wandel „für Land und Leute“ nutzen. Wie diese Mission in der Praxis aussieht, ist an den Start-up-Hotspots, wie dem accent Gründerservice, zu sehen. Bis zu 200 Jungunternehmer jährlich „pitchen“ ihre Projektideen, wie es im Fachjargon heißt, vor den Experten.
Sie alle hoffen nicht nur auf ein lukratives Investment, sondern wollen auch auf das fachliche Know-How der Gründungsspezialisten zugreifen. Michael Moll ist Geschäftsführer des accent Gründerservices und sieht seine starken Partner als Zugpferd: „Wir arbeiten sehr eng mit internationalen Organisationen zusammen und sind auch der offizielle CERN-Inkubator in Österreich. Gerade im Bereich der Hochtechnologien sind wir gut verankert und können auf einschlägiges Wissen zugreifen.“
Wien oder Niederösterreich
Um Niederösterreich als Standort zu bewerten, müssen zwei Kategorien von Gründern unterschieden werden. „Für die klassischen Hipster unter den Start-ups, die sich eher an Webplattformen orientieren und das städtische, vibrierende Umfeld suchen, ist Niederösterreich sicher nicht der präferierte Standort. Wir haben aber einen Vorteil für Personen oder Forschungsgruppen, die im Gegensatz dazu eher fokussiert an ihren Geschäftsideen arbeiten und sich nicht ablenken lassen wollen.“
Was banal klingt ist in der Start-up-Szene durchaus als „Networker-Syndrom“ gefürchtet. Denn in der Hauptstadt gibt es nahezu jeden Abend große Stammtische und Vernetzungstreffen. Wer überall präsent ist, hat kaum Zeit seine Geschäftsidee voran zu treiben. „Niederösterreichs Unternehmer sind in diesem Punkt allgemein sehr viel selektiver.“ Das Bundesland ist ein verlässlicher Partner für Hochtechnologien wie die Pharmabranche, Industrietechnik und GreenTech. „Es gibt ein ausgezeichnetes Umfeld für Forschung und Entwicklung. Hier finden sich viele ‚Hidden Champions‘, wie Zizala Lichtsysteme oder die Betonbaugruppe Doka, die eng mit innovativen Start-ups zusammenarbeiten. Eines unserer Unternehmen entwickelt zum Beispiel einen Satellitenantrieb und rekrutiert dafür die weltweiten Experten vom MIT und aus Singapur. Hier ist der Standort zweitrangig“, erklärt Moll.
Not macht erfinderisch
Eines der Start-ups im Portfolio von accent ist „FARMDOK“, eine App, die Landwirte bei den gesetzlichen Dokumentationspflichten unterstützt und den bürokratischen Aufwand reduziert. Andreas Prankl war eigentlich in der Automobilbranche tätig und gründete die Firma aus Eigenbedarf: „Mein Bruder hat den landwirtschaftlichen Betrieb zu Hause übernommen und ist zusätzlich zur Feldarbeit immer lange im Büro gesessen.“ Die gesetzlichen Richtlinien schreiben genau vor, welche Dünge- und Pflanzenschutzmittel aufzubringen und welche Grenzwerte einzuhalten sind.

Mit FARMDOK nehmen Landwirte einfach ihr Smartphone samt App mit in den Traktor und betreiben „Smart Farming“. Smartphones verfügen bereits über alle nötigen Sensoren, wie etwa GPS, um die Fahrspur automatisch aufzuzeichnen und die relevanten Daten zu erfassen. Doch neben der technischen Machbarkeit ist vor allem wichtig, wie technologieaffin die Kunden sind. „Manche unserer Landwirte leisten wie wir Pionierarbeit, andere halten das erste Mal in ihrem Leben ein Smartphone in der Hand."
Wieselburg bietet für das vielversprechende Produkt nicht nur eine gute Ausgangssituation, weil Prankls Haus und Hof dort stehen. Agrartechnik hat in Wieselburg eine lange Tradition. Fast alle Mitarbeiter absolvierten die Abteilungen Landwirtschaft und Landtechnik am Francisco Josephinum oder die Austrian Marketing University im Ort. Nur ein Jahr nachdem FARMDOK den Zuschlag für eine AWS-Seedfinancing-Förderung erhalten hat, wurde es bereits von der Agritechnica, der Weltleitmesse für Landtechnik, ausgezeichnet – ein Award für Innovationstechnik, der eigentlich nur namhaften Maschinenherstellern vorbehalten bleibt.
Ein Produkt, das niemand wollte
Eine ähnliche Erfolgsgeschichte legten die drei Gründerinnen des Start-ups „Helga“ hin. Jede der Frauen im Team ist Diplomingenieurin eines anderen Bereichs, doch „Helga“ ist keine Metapher für die geballte Frauenpower, sondern ein Akronym für „healthy algae“, also „gesunde Algen“.

Zwei der drei Gründerinnen arbeiteten vor dem eigenen Projekt für ein Unternehmen, das Algen für die Biodieselproduktion einsetzen wollte. Während sich herausstellte, dass es schwierig wird, Algen im Vergleich zu Zuckerrohr wettbewerbsfähig für den Treibstoffeinsatz zu machen, entdeckten die Forscherinnen die Vielseitigkeit der Wassergewächse. „Algen bestehen aus vielen gesunden Fetten, Proteinen und hochwertigen Vitaminen. Da sie auch sehr schnell und ressourcenschonend wachsen, dachten wir sofort daran, sie als Getränk zu verarbeiten. Allerdings war unser ehemaliger Chef nicht besonders begeistert und wollte lieber bei der Biodieselproduktion bleiben“, so Geschäftsführerin Renate Steger.
Bereits zu Beginn musste der Unternehmergeist einige Skepsis überstehen: „In Wien war die Haltung gegenüber Algen sehr ablehnend. Erst in Niederösterreich war das Feedback unterstützender. Das hat uns die Standortfrage sehr erleichtert.“ Positive Rückmeldung kam auch von der niederösterreichischen Wirtschaftsagentur ecoplus, die vor allem bei der Suche nach einem Abfüller für das Algengetränk behilflich war. Anfangs wollte niemand so recht ins Boot, erinnert sich Steger vor allem an Getränkeabfüller die mit den Worten „um Gottes Willen, Algen kommen auf keinen Fall in unsere Maschinen“, abwinkten. Die Jury der „Höhle der Löwen“, dem deutschen Pendant zu „2 Minuten 2 Millionen“, erkannte das Potential hingegen gleich. Handelstycoon Ralf Dümmel beteiligte sich an Helga und verhalf zur Listung in zahlreichen Ländern, darunter Finnland und Russland.
Genau genommen muss zwischen Start-ups und klassischen Unternehmensgründungen unterschieden werden. Kriterien dafür sind unter anderem das Umsatzwachstum und die zugrunde liegende Innovation. Demnach sind weniger als drei Prozent der 8.430 Gründungen in Niederösterreich auch tatsächlich Start-ups – Helga zählt jedoch definitiv dazu.
Da laufend neue Algenprodukte wie Cracker dazu kommen und damit auch der Bedarf an Algen steigt, wird das „Superfood“ im großen Stil in Glasröhrensystemen gezüchtet. Dies geschieht im Moment noch in der Nähe von Berlin. Derzeit entsteht aber auch in Bruck an der Leitha eine neue Algenzuchtanlage, von der Helga beziehen möchten. Die gesamte Wertschöpfung wäre dann in Niederösterreich verankert.
Start-ups bedienen Start-ups
„Outsourcing“ ist für kleine Betriebe besonders interessant, damit sich die Gründer voll und ganz auf das Kerngeschäft konzentrieren können. Unterstützende Aufgaben, wie etwa Logistik, werden auch von Helga ausgelagert. Für andere Unternehmen stellt diese Dienstleistung aber gleich ein ganzes Geschäftsfeld dar.

Der 29-jährige Christoph Glatzl und sein 28-jähriger Kollege, Georg Weiß, sind beide gelernte Speditionskaufleute. Vor etwa einem Jahr gründeten sie gemeinsam das Logistik-Start-up „Logsta“. „Kleine Firmen passen für große Logistiker nicht ins Konzept. Genau diese aufstrebenden Start-ups bedienen wir jetzt“, sagt Glatzl. Die beiden Jungunternehmer helfen ihren Kunden alle Arten von Logistikproblemen zu bewältigen.
Das maßgeschneiderte Programm reicht vom Import aus China, über kostenlose Implementierung von Onlineshops, bis hin zur kompletten Versandabwicklung. Ein 1.000 Quadratmeter großes Zentrallager befindet sich in Wiener Neustadt, also direkt an der Autobahn. Die wohl größte Hürde war der anfängliche Lagerumbau, damit eine Bewilligung durch die Behörden überhaupt erst möglich wurde. „Niemand wollte uns so recht sagen, wie das Lager genau auszusehen hat. Das hat uns vier wertvolle Monate gekostet.“ Mittlerweile ist aber auch dieses Problem gelöst und Logsta wurde innerhalb von weniger als einem Jahr durch riz up, der Gründungsagentur des Landes Niederösterreich, ausgezeichnet und bedient bereits über 26 Kunden.
Ein neues Ökosystem entsteht
Rund um die jungen Talente entsteht eine neuartige Szene in Niederösterreich, die von den verschiedenen Gründeragenturen maßgeblich geprägt wird. riz up hat im Zuge des 30-jährigen Bestehens kürzlich auch eine Coworking-Plattform ins Leben gerufen, die Gemeinschaftsbüros mit inspirierender Atmosphäre vermittelt. Dort teilen sich Junggründer neben Breitbandleitung, Drucker und Küche auch wertvolles Know-How und Erfahrungen. Mehr als 20 Coworking-Spaces in Niederösterreich machen deutlich: Start-ups schaffen Arbeitsplätze und stärken die ländliche Region. Mit einer zündenden Idee, dem richtigen Team und viel Fleiß, braucht es also keine Großstadt, um als Start-up erfolgreich zu sein.
Gründer-Glossar
- AWS: Austria Wirtschaftsagentur, vergibt Förderungen und Dienstleistungen für Gründer
- aws Seedfinancing-Förderung: Bedingt rückzahlbarer Zuschuss für die Gründung von High-Tech-Unternehmen
- ecoplus: Wirtschaftsagentur im Eigentum des Landes Niederösterreich, Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft
- riz up: Gründungsagentur im Eigentum von ecoplus
- accent: Inkubator des Landes Niederösterreich und Ansprechpartner für technologieintensive Ideen