Das Glück im langen Leben. Was Kunst und Familie bedeuten, warum man für die Liebe alles hinschmeißen soll und wie das Altwerden letztendlich alle demütigt: Ein Gespräch mit Arik Brauer, Adolf Holl und Lotte Tobisch über Leben zwischen Dankbarkeit und Zorn.
Adolf Holl: Ich habe ein ärztliches Attest, dass ich vergesslich bin.
ArikBrauer: Ich bin vergesslich ohne Attest. Ich vergesse manchmal sogar, dass ich vergesslich bin.
Holl: Ich weiß nur eines, dass du eine besonders schöne Tochter hast.
Brauer: Ich habe drei besonders schöne Töchter.
Frau Tobisch, Sie haben einmal gesagt, es ist wichtig, dass man ist, wer man ist.
Lotte Tobisch: Das ist von Shakespeare. Bleib dir selbst treu.
Und haben Sie das geschafft?
Tobisch: Ja, bis zu einem gewissen Grad. Das hohe Alter, das ich derzeit habe, 92 Jahre, bringt einen enormen Vorteil. Das bisschen Rücksicht, das man nehmen muss, weil man ja kein Selbstmörder sein will, das kann man weglassen. Jetzt ist es mir wirklich wurscht, was sich wer denkt oder ob mir etwas schaden kann. Es kann mir nichts mehr schaden. Ich kann mir nur selbst schaden, indem ich mich zu Tode esse oder so etwas.
Holl: Das, was ich sein wollte, bin ich geworden, und daher bin ich sehr dankbar. Mein Wunsch, Priester zu werden, war schon in meinen Jünglingsjahren vorhanden. Es gab einen liebenswürdigen Pfarrer in dem schönen Ort Kirchberg ob der Donau. Im Jahr 1944 waren dort Kinder landverschickt. Meine Mutter hatte bewirkt, dass ich nicht nach Ungarn transferiert werde, sondern eben nach Kirchberg. Der Pfarrer hat bemerkt, dass ich mich in dem Drecksnest langweile, und fragte mich, ob ich vielleicht ministrieren will. Das habe ich bejaht aus Gründen, die zunächst noch nicht feststanden. Aber sobald ich eine bestimmte Geste gesehen habe, am Altar, war es um mich geschehen. Das ist nicht vom Kopf her gekommen. Der Pfarrer hat sich mit beiden Unterarmen auf den Altar gestützt, mit dem Rücken zum Volk und hat etwas geflüstert, was nur ich gehört habe, die Leute nicht, auf Lateinisch, das habe ich schon ein bisschen können, mit 14 Jahren. Hoc est enim corpus meum. Das ist mein Leib. Daraufhin musste ich das Messgewand halten, und er hat die Hostie in die Höhe gehoben. Diese Wandlungsworte, dieser Vorgang, hat mich als Bub sehr gepackt. In mir erwachte der Wunsch, das will ich auch machen. Das will ich auch können. Ich würde heute, da ich diese Sache genauer sehe, sagen, zaubern können.
Brauer: Ich bin ein glücklicher Mensch durch und durch. Sicher unverdienterweise. Ich habe eine ziemlich komplizierte Kindheit gehabt, das ist ja bekannt, und nach 1945 ein strahlendes Leben, obwohl ich gute 20 Jahre in Elend, in tiefster Armut gelebt habe. Aber ich hatte ein Glück ohnegleichen, die richtige Frau zur richtigen Zeit zu finden. Die Basis, die verschiedenen Stützen und bedeutsamen Punkte meines Lebens waren drei: Die Familie, meine Kunst, vielleicht zuerst die Kunst und dann die Familie, und mein Verhältnis zur Gesellschaft. Die Kinder sind gelungen, die Enkelkinder sind gelungen, ich schwimme in einem Bassin von Zärtlichkeit und Liebe und Glück.
Kann man den Zustand des Glücks nicht meist erst rückschauend benennen?
Brauer: Glückliche Momente kommen und gehen, ich spreche von einem Zustand der Zufriedenheit, ohne gegeißelt zu sein von „Ich muss das, ich muss jenes“. Als Student war ich damit beschäftigt, den Sozialismus zu verwirklichen und die klassenlose Gesellschaft, und ich habe sehr viele Jugendjahre versäumt. Das habe ich später sehr bereut. Nicht wegen der vergeudeten Zeit, sondern weil ich mich habe bluffen lassen, weil ich ihnen auf den Leim gegangen bin. Wir haben dann längere Zeit in Paris gelebt, dort habe ich meinen Durchbruch als Künstler erzielt. Von da an hatte ich, was meine künstlerische Karriere betrifft, immer das Gefühl, es genügt mir. Zuerst haben meine Frau und ich gesungen, dann habe ich gemerkt, ich kann von meiner Malerei leben, und dachte mir: Ich kann sitzen und malen und leben.