Wer sich in Europa umblickt, kann über Junckers Aussagen nur staunen.
Niemand, der sich bloß ein wenig mit dem europäisch-türkischen Verhältnis befasst, hatte auch nur die geringste Hoffnung, dass das Gipfeltreffen von Varna konkrete Ergebnisse bringen würde. Doch wer den Auftritt des Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker am Montagabend nach seinem Gespräch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verfolgt hat, muss sich schwerer Zweifel erwehren, ob man an der Spitze der Kommission noch politisch klar sieht.
"Ich bin Romantiker, Nostalgiker, und ein bisschen traurig über den Zustand der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei", lamentierte Juncker, ehe er alle Kritik an der Sinnhaftigkeit der seit 14 Jahren dahindümpelnden Beitrittsverhandlungen mit diesen Worten beiseite wischte: "Ich bin gegen diese simple, oberflächliche, manchmal demagogisch-populistische Idee, dass wir die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen. Nein, ich bin der Garant der Verpflichtungen, welche die EU gegenüber der Türkei eingegangen ist."
Wer sich in Europa umblickt, wer den Umbau des einzigen säkulären Staates mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung zu einer islamistischen Autokratie unter Führung Erdoğans beobachtet, kann über Junckers Aussagen nur staunen. Die Eiszeit zwischen Brüssel und Ankara liegt in erster Linie sicher nicht an den Europäern. "Ein bisschen traurig" kann man nicht einmal mehr als typisch Junckersche Leutseligkeit verbuchen. Angesichts des unerbittlichen Vorgehens türkischer Truppen in Syrien, angesichts der Unterdrückung jeglicher Opposition, angesichts der Beschneidung der Grundrechte der türkischen Bürger kann man das nur als weltfremde Einlassungen beklagen.
Man merkt Juncker in diesen stürmischen globalen Zeiten an, dass er mit der harten Machtpolitik eines Erdoğan, Putin oder Xi überfordert ist. Beruhigend, dass ihm mit Donald Tusk ein Präsident des Europäischen Rates zur Seite steht, der am eigenen Leib erfahren hat, wie es ist, als Dissident in einer Diktatur zu leben. Auch in Varna war es Tusk, der den richtigen Ton traf und festhielt, dass man mit Erdoğan zwar das Interesse teile, den Nahen Osten zu stabilisieren - dass aber nie, wenn es um konkrete Einigungen geht, ein Einvernehmen erzielbar ist.
Vielleicht sollte sich Juncker, der Putin zu seiner gelenkten Wiederwahl zu gratulieren sich nicht zu schade war, in seinem letzten Amtsjahr die Einsicht Stefan Zweigs für den Umgang mit Autokraten beherzigen: "Wir wissen seit Thukydides, Xenophon und Plutarch, dass allezeit und allemal die Oligarchen nach dem Siege immer nur unduldsamer werden", schrieb Zweig in "Castellio gegen Calvin", seiner erzählten Lebensgeschichte eines Schlüsselkonfliktes der Reformation und Aufklärung. "Immer erfüllt sich das gleiche Gesetz, dass, wer einmal Gewalt übte, sie weiter üben muss, und wer mit Terror begonnen, keine andere Möglichkeit hat, als ihn zu steigern."