Gastkommentar

Großbritanniens EU-Austritt ist ein Psychodrama

Gastkommentar. Die britische Gesellschaft belügt sich selbst, ohne es zu merken.

Großbritannien ist reif für eine Psychotherapie. Die Vorgänge rund um den Brexit deuten darauf hin, dass sich die britische Gesellschaft hinsichtlich des EU-Austritts selbst belügt, ohne es zu merken. Viele Befürworter und eine mindestens ebenso große Anzahl der Gegner des Abschieds von der EU vermeiden es nach Kräften, ihre Zweifel zur Kenntnis zu nehmen. In der Tat ist diese Verweigerungshaltung die größte Hürde, die überwunden werden muss, um eine historisch einmalige, selbst verschuldete Beschädigung des Vereinigten Königreichs doch noch zu verhindern.

Das Votum für den Brexit war zweifellos ein Fehler. Korrigieren aber lässt sich ein Fehler erst dann, wenn er als solcher auch erkannt wird. Dass es ein Jahr vor dem angekündigten Austrittsdatum noch immer an Erkenntnis mangelt, hat zu einem beträchtlichen Ausmaß mit Motiven, Gefühlen und Hintergedanken der Beteiligten zu tun.

Unter den britischen Europafreunden lassen sich mehrere mentale Strategien des Umgangs mit dem Brexit diagnostizieren. Es gibt es jene, die gute Miene zum bösen Spiel machen und das Votum der Wähler zur Kenntnis nehmen, weil sie es für undemokratisch erachten würden, am Ergebnis zu rütteln. Eine andere Gruppe übt sich im pragmatischen Umgang mit dem Brexit und will nicht darüber nachdenken, wie sich eine Kehrtwende bewerkstelligen ließe. Zum jetzigen Zeitpunkt sind weder die Pragmatiker noch die ehrenvollen Verlierer dazu bereit, den Kampf gegen den bevorstehenden Austritt wieder aufzunehmen.

Unangenehme Wahrheiten

Auf der anderen Seite der Brexit-Barrikade gibt es mindestens ebenso viele Menschen, die täglich mentale Verrenkungen anstellen müssen, um nicht mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert zu werden – dass nämlich der Abschied von Europa handfeste negative Konsequenzen haben wird. Tief im Innersten wissen sie, dass der Brexit kein gutes Ende nehmen kann und sie auf falsche Versprechen der Europafeinde hereingefallen sind. Die Überzeugungsarbeit wird dadurch erschwert, dass niemand gern freiwillig zugibt, einem Trickbetrüger aufgesessen zu sein und einen Irrtum begangen zu haben. Anstatt sich dieser unangenehmen Tatsache zu stellen, zurren sie lieber ihre mentalen Scheuklappen fester.

Große Zweifel in allen Lagern

Wie kann man den EU-Befürwortern ihre Konfliktscheu nehmen und den fehlgeleiteten EU-Gegnern die Vermeidungshaltung abtrainieren? Das beste Antidot liegt in der Erkenntnis, dass eine breite Mehrheit der Briten ernsthafte Bedenken hat, ob sich ihr Land in die richtige Richtung bewegt.

Das Argument hat den unbestrittenen Vorteil, dass es sowohl bei den zurückhaltenden Austrittsgegnern als auch bei den verunsicherten Befürwortern des Austritts wirkt. Setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Zweifel weitverbreitet sind, können beide Lager zueinanderfinden. Wenn Freunde und Feinde des Brexit zur Einsicht gelangen, dass sie nicht die Einzigen sind, die von Selbstzweifeln geplagt werden, wird es ihnen leichterfallen, ihre mentalen Blockaden zu lösen und über Alternativen zum EU-Austritt nachzudenken.

Wir Briten kommen nicht umhin, uns zu entscheiden: Wollen wir die Augen vor der Wahrheit verschließen oder frei von inneren Konflikten über unser Schicksal bestimmen? Die Antwort liegt auf der Hand. Um Großbritannien zu retten, müssen wir aufhören, Tatsachen zu verdrängen, und den Brexit aufhalten, bevor es zu spät ist.

Mark Dixon (*1962) lebt in London und ist der Gründer der Mergers-&-Acquisitions-Beratungsunternehmen the1.com und ThinkingLinking.com. Im Vorfeld des Brexit-Referendums initiierte er die Videokampagne „IN Love“, um junge Briten zum Votum für den Verbleib in der EU zu bewegen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2018)

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