Leitartikel

Die Toten von Gaza, die Strategie Erdoğans und arabischer Unmut

Mindestens 18 Palästinenser wurden getötet und mehr als 1400 verletzt.
Mindestens 18 Palästinenser wurden getötet und mehr als 1400 verletzt.REUTERS
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Der Einsatz scharfer Munition gegen palästinensische Protestierende ist erschreckend. Mit der Kritik daran verfolgt der türkische Präsident eigene Ziele.

Es sind verstörende Nachrichten, die von der Grenze zwischen Israel und dem Gazastreifen kommen. Zehntausende Menschen protestieren – aufgestachelt von der islamistischen Hamas – an den Grenzanlagen. Immer wieder versuchen Gruppen, die Sperren zu durchbrechen. Israels Armee reagiert mit Tränengas, Gummigeschossen und scharfer Munition. Die schreckliche Bilanz bis Montag: Mindestens 18 Palästinenser wurden getötet und mehr als 1400 verletzt.

Israels Behörden haben von Anfang an gedroht, ein Überwinden der Grenzanlagen mit allen Mitteln zu verhindern – auch, um sich so vor dem Eindringen von Attentätern zu schützen. Doch der massive Einsatz scharfer Munition ist erschreckend. Er gilt bei – auch gewaltsamen – Protesten nach internationalen, rechtsstaatlichen Kriterien als rote Linie, vielleicht mit Ausnahme einer unmittelbaren Selbstverteidigungssituation für Polizisten. Es gibt für sogenanntes Riot-Control ein breites Arsenal nicht tödlicher Waffen: von Tränengas bis hin zu Wasserwerfern.

Dass die Hamas ihre Kämpfer in die Proteste eingeschleust und den Tod von Menschen einkalkuliert hat, ist klar. Umso unverständlicher ist es, dass Israels Regierung in diese Propagandafalle getappt ist.

Die Hamas hat klargemacht, dass es ihr bei der Kundgebung nicht nur um ein Ende der Blockade des Gazastreifens geht, sondern um die „völlige Rückkehr“ aller palästinensischen Flüchtlinge und Vertriebenen, was de facto ein Ende des Staates Israel in seiner jetzigen Form bedeuten würde. Doch der islamistischen Organisation muss klar werden, dass Israel nicht verschwinden wird. Die Hamas wird ihre Gewaltfantasie, die Juden ins Meer zu treiben, nicht realisieren können.

Israels Regierung muss aber ebenso klar werden, dass die Palästinenser auf der anderen Seite des Zauns nicht verschwinden werden und sie ein Recht auf ein Leben in Würde haben. Die blutigen Vorgänge zeigen: Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ungelöst. Es braucht endlich ein nachhaltiges Abkommen, so schwierig das mittlerweile auch sein mag.

Einer der Ersten, der die Schüsse auf die Demonstranten aus Gaza heftig kritisierte, war der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan. Er präsentiert sich als Fürsprecher der Palästinenser. Beim Vorgehen gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner ist er selbst aber nicht gerade zimperlich. Türkische Truppen haben die vor allem von Kurden bewohnte Stadt Afrin in Nordsyrien erobert. Zu anderen, von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten kontrollierten Gebieten in Syrien wurden Grenzbefestigungen hochgezogen. Als im Oktober 2014 kurdische Demonstranten in Qamishli vor dem Grenzzaun protestierten, setzten türkische Soldaten Tränengas und scharfe Munition ein. Ein 13-Jähriger wurde erschossen.

Man stelle sich vor, Zehntausende Kurden Syriens würden mit Postern des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan zur türkischen Grenze ziehen und versuchen, Sperranlagen zu überwinden. Die türkischen Soldaten würden mit Gewalt reagieren, und Erdoğan würde das als „Kampf gegen Terror“ rechtfertigen.

Mit der scharfen Kritik an Israel verfolgt Erdoğan strategische Ziele: Er will eine Führerfigur im arabischen Raum sein. Und er setzt dabei auch auf die Frustration in vielen arabischen Ländern über die eigenen Regierungen.

Der Wunsch nach Brot, Freiheit und Gerechtigkeit, den Hunderttausende während des Arabischen Frühlings vor sieben Jahren hinausgeschrien haben, hat sich vielfach nicht erfüllt. In Ägypten etwa ließ sich soeben Machthaber Abdel Fatah al-Sisi mit mehr als 90 Prozent wiederwählen. Ägypten wird heute von einem noch rigideren Regime als zur Zeit Hosni Mubaraks regiert. Internationale Organisationen klagen über massive Menschenrechtsverletzungen. Die derzeitige Stabilität, die al-Sisi für den Westen repräsentiert, könnte sich erneut als Scheinstabilität herausstellen.

Auch abgesehen vom Blutbad in Syrien leidet die Nahostregion unter gefährlichen Problemen. Rasche Lösungen sind nicht in Sicht – ebenso wenig wie mögliche Vermittler unter den Spitzenpolitikern der USA oder Europas. Die Zeichen stehen auf noch mehr Konflikt.

E-Mails an:wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2018)

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