Fall Skripal: Moskau geht in die Offensive

Die Herkunft des Nervengifts Nowitschok ist unklar.
Die Herkunft des Nervengifts Nowitschok ist unklar.APA/AFP/ADRIAN DENNIS
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Nachdem die genaue Herkunft des Nervengifts nicht feststellbar ist, setzt Russland zum rhetorischen Gegenangriff an. London lehnt eine gemeinsame Untersuchung ab.

Moskau. Der Fall Skripal ist eine Chronik der diplomatischen Entgleisung. Die Kommunikation zwischen Moskau und London ähnelt zusehends einem Schlagabtausch voller Sarkasmus, Schadenfreude und schlechtem Willen, gepaart mit einer großen Portion Misstrauen. Auch die gestrige Sondersitzung der Organisation für ein Verbot von Chemiewaffen (OPCW) in Den Haag, an der auch Vertreter Russlands und Großbritanniens teilnahmen, brachte keine Entspannung.

Das Treffen hinter verschlossenen Türen wurde auf Initiative Moskaus über die Nervengiftattacke auf Sergej Skripal und seine Tochter Julia vor einem Monat im englischen Salisbury einberufen. Im Mittelpunkt des Streits stehen nunmehr die Ermittlungen. Moskau fordert seit Beginn eine Beteiligung – so auch gestern. Die Mehrheit der Delegierten lehnte das ab. Britische Diplomaten hatten vor der Sitzung bereits von einem „perversen“ Vorschlag Moskaus gesprochen. Russland wende eine Diversionstaktik an und versuche sich aus der Verantwortung zu ziehen, hieß es weiter. Der Vorschlag zu einer unabhängigen Untersuchung sei gemeinsam mit China und dem Iran bei der Sitzung der OPCW eingebracht aber mehrheitlich abgelehnt worden

Moskau will nun in der Affäre eine Sondersitzung des UNO-Sicherheitsrates einberufen. Das Gremium solle sich am Donnerstag mit den britischen Vorwürfen befassen, dass die Regierung in Moskau hinter dem Anschlag stecke, sagte der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensja in New York.

Nach der Erklärung eines britischen Labors über die unklare Herkunft des Nervengifts Nowitschok sieht Moskau seine Position bestätigt. Der Kreml verlangte von London zudem eine Entschuldigung. Das Forschungszentrum des britischen Verteidigungsministeriums hatte am Dienstag erklärt, es gebe keine präzisen Hinweise, dass das Gift aus Russland gekommen sei.

„Groteske Provokation“ des Westens

In Russland weist man die westlichen Vorwürfe fast reflexartig von sich. Eine Auseinandersetzung mit den konkreten Inhalten vermeidet man. Während der Westen näher zusammenrückt und von Moskaus Schuld überzeugt ist, beteuert man seine Unschuld. Insbesondere nach der Erklärung des Labors sieht sich Moskau einmal mehr bestätigt, dass der Westen eine Kampagne gegen Russland führe, um es klein zu halten.
Die Maßnahmen mehrerer westlicher Staaten interpretiert man auch als Verteidigungsversuch einer alten, ins Wanken geratenen Weltordnung. Die Affäre hat sich zum Machtkampf zwischen Russland und dem Westen ausgewachsen. Gestritten wird darüber, wer die Spielregeln in dem Fall diktieren darf. Die Aufklärung wird nachrangig.

Derzeit scheint die Dynamik für Moskau zu arbeiten. Putin äußerste sich am Mittwoch fast geruhsam: „Wir wollen, dass der gesunde Menschenverstand am Ende triumphiert und die internationalen Beziehungen keinen Schaden nehmen.“ Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa geißelte einmal mehr die westlichen, und insbesondere die britischen, Medien. Der Chef des russischen Auslandsgeheimdiensts, Sergej Naryschkin, drehte gar den Spieß um. Er bezeichnete den Giftanschlag als „groteske Provokation“ der Geheimdienste Großbritanniens und der USA. Ein Teil der europäischen Staaten habe keine Bedenken, London und Washington „ohne mit der Wimper zu zucken zu folgen“, sagte er während einer internationalen Sicherheitskonferenz in Moskau. Naryschkin warnte vor einem „neuen Kalten Krieg“ – etwas, das russische Beamte häufig tun, bedeutet es doch das Gleichgewicht des Schreckens zwischen Russland und den USA. Auch die Haustiere Skripals werden zur russischen Argumentation herangezogen.

Als Konsequenz aus dem Anschlag wiesen Großbritannien und mehr als 20 Länder Dutzende russische Diplomaten aus; Russland wies seinerseits westliche Diplomaten aus – gestern etwa einen Vertreter Ungarns.

LEXIKON

Nowitschok ist eine Familie von Nervengiften und steht in der Ahnenreihe der älteren Gifte Sarin und VX. Entwickelt in den 1980er-Jahren in der UdSSR, deckte seine Existenz der Wissenschaftler Vil Mirzayanov 1991 auf. Er zog später in die USA. Nowitschok („Neuling“) soll das stärkste von Menschen erzeugte Gift sein, es legt Verbindungen im Nervensystem lahm und führt in der Regel schon bei Hautkontakt mit Mengen von zehn bis 20 mg, der Masse von ein bis zwei Waldameisen, zum Tod.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2018)

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