Merk's Wien

Morgenland und Abendland – Politik auf der Europakarte

Solang der Ostwind stärker ist als der Westwind haben die Muslime keinen Grund, sich zu fürchten.

Die deutsche Sprache hat geografische Namen für Gegenden, die im 21. Jahrhundert als solche nicht mehr gebraucht werden. Auch wenn sie mit politischen Implikationen Hand in Hand gingen, sind sie nicht mehr in Umlauf. Das sind vor allem auch jene geografischen Titel, die aus welchen Gründen auch immer nicht mehr verwendet werden. Sie erinnern an eine Zeit, da die Windrose wenig mehr anzeigte als die Haupthimmelsrichtungen: Norden, Süden und wenn es darauf ankam, auch noch das, was dazwischen lag, nämlich Osten und Westen.

Irgendwann nannte man dann die Heimat des Ostwinds das Morgenland und die Gegend, die vis-à-vis liegt, folgerichtig Abendland. Es war nichts Politisches bei diesem Gedankengang, der sich nur an die geografischen Voraussetzungen hielt. Morgenland und Abendland – das waren Gebiete, in denen die Sonne langsam zu scheinen begann, wohingegen im Abendland, wie es der Name sagt, die Strahlen langsam verdämmerten.

Es ist interessant, dass es den Ausdruck „abendländisch“ gibt, das Wort „morgenländisch“ aber nicht so gebräuchlich war. Abendländisch hieß bürgerlich und brachte mit sich eine Eigenschaft, die heute fast im Verschwinden begriffen ist.

Es ist verwunderlich, dass die beiden Begriffe „Abendland“ und „Morgenland“ heute nicht mehr jenen Klang bieten, den sie noch vor hundert Jahren usurpieren konnten. Man hat offenbar diese Eigenschaften, die dann auch ihre Selbstständigkeit zu behaupten suchten, als Bezeichnungen gewählt, um – siehe oben – sie mit ihrer eigenen Strahlkraft zu schildern. Es gibt heute abendländische Literatur, aber nur wenige, die man als morgenländisch bezeichnen könnte.


Es gibt sogar eine abendländische Geisteshaltung und Ideologie, die den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung ausdrücklich zu dem Bekenntnis des „Geistes der christlich-abendländischer Kultur“ als Fundament seiner Kanzlerschaft bewog. Eine der schönsten Formulierungen hat dann ein Jahr später der deutsche Bundespräsident Theodor Heuss bei einer Schulfeier in Heilbronn getroffen: „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen und das Kapitol in Rom. Aus allen hat das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“

Ergänzend dazu ist 2014 eine Bewegung Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) entstanden. Neuerdings wird behauptet, der Begriff „jüdisch-christliches Abendland“ sei irreführend. Tausend Jahre lang habe das christliche Abendland alles darangesetzt, die Juden auszugrenzen und als Sündenböcke zu diskriminieren, heißt es in Wikipedia. Die verbreitete Vorstellung einer Symbiose von Juden und Nichtjuden könne nicht stimmen. Vielmehr würden „Muslimfeinde ein christlich-jüdisches Abendland konstruieren, das es nie gegeben hat“.

Geht also die Sonne wirklich auf im Morgenland? Warum glaubt die Volksmeinung vom Abendland das Gegenteil? Und warum haben wir nicht beachtet, die Werteskala umzustellen? Offenbar ist es umgekehrt: Wir glauben und hoffen, dass die Sonne im Abendland aufgeht. Immer wieder und immer aufs Neue. Die Sonne weiß es. Wissen es auch ihre Strahlen?

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
Emails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2018)

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