Die Organisation kritisiert die systematische Demontage von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Das jüngste Beispiel: Die Verurteilung von 14 Journalisten der liberalen Zeitung "Cumhuriyet".
Ankara/Wien. Die einst dynamische Zivilgesellschaft ist nur mehr ein Schatten ihrer selbst – das ist eine der Erkenntnisse von Amnesty International zur aktuellen Lage in der Türkei. In ihrem neuen Bericht hält die Menschenrechtsorganisation fest, dass Ankara zivilgesellschaftliche Akteure systematisch und bewusst demontiere und festnehmen lasse. Darüber hinaus werde „ein erdrückendes Klima der Angst geschaffen“, wie Gauri van Gulik, Europadirektorin von Amnesty sagt. Kritisiert wird vor allem der Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 verhängt und erst in der vergangenen Woche zum siebten Mal verlängert worden ist.
Im Rahmen dieses Ausnahmezustandes – es gilt beispielsweise ein eingeschränktes Versammlungsrecht – schlossen die Behörden mehr als 1300 Nichtregierungsorganisationen, „weil sie nicht näher benannte Verbindungen zu ,terroristischen‘ Organisationen unterhalten haben sollen“, heißt es weiter. Betroffen ist etwa ein Verein in der ostanatolischen Provinz Van, der Frauen und Kinder über sexuelle Gewalt aufgeklärt hat, oder Organisationen für die Stärkung der Homosexuellenrechte. Einer der prominenteren Fälle in der Türkei betrifft Amnesty International selbst: Der Präsident dieser Niederlassung, Taner Kılıç, saß mehrere Monate in Haft. Die Behörden werfen ihm vor, die Mitteilungsapp ByLock benutzt zu haben; diese App hätten schließlich auch die Verschwörer des gescheiterten Putsches verwendet. Amnesty International ließ das Mobiltelefon Kılıçs forensisch untersuchen und kommt zu dem Schluss, dass er diese App nie verwendet habe.
Prozess gegen Meşale Tolu fortgesetzt
Auch der Fall Osman Kavala schlägt hohe Wellen: Der Unternehmer und Aktivist sitzt seit Oktober 2017 im Gefängnis, er soll in Kontakt mit den Putschisten gewesen sein. Amnesty kritisiert, dass die Ermittler bis heute keine Beweise dafür erbracht haben. Die Liste der Betroffenen ließe sich noch lange fortsetzen. Allein seit Jänner, mit dem Beginn der türkischen Offensive im syrisch-kurdischen Afrin, haben die Behörden 845 Menschen festgenommen, weil sie sich in sozialen Medien kritisch über den Einsatz geäußert haben, heißt es im Bericht.
Auch der neueste Bericht der NGO Reporter ohne Grenzen zeichnet ein düsteres Bild von der Türkei. Das Land ist im Ranking der internationalen Pressefreiheit erneut abgerutscht und belegt nun Platz 157 von insgesamt 180. Gleich mehrere Prozesse werden derzeit gegen Journalisten geführt. Am Mittwoch verurteilte ein Gericht 14 Mitarbeiter der liberalen Zeitung „Cumhuriyet“ zu mehrjährigen Hafstrafen.
Der Prozess gegen die deutsche Journalistin und Übersetzerin Meşale Tolu wird indessen am heutigen Donnerstag fortgesetzt. Fast acht Monate lang war Tolu in Istanbul inhaftiert, zeitweise mit ihrem kleinen Sohn. „Ich hoffe natürlich, dass meine Meldepflicht und meine Ausreisesperre aufgehoben werden“, sagte Tolu der Deutschen Presse-Agentur. Momentan darf sie die Türkei nicht verlassen, sie muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Ihr und auch den „Cumhuriyet“-Journalisten werfen die Behörden Terrorpropaganda vor. Die Inhaftierung von Tolu sowie dem „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel hatte zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen Berlin und Ankara geführt. (ag./duö)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2018)