Die EU hat bald keine Dolmetscher mehr

Die EU-Kommission sucht Fachkräfte für Englisch und Deutsch. Qualifizierte Bewerber gibt es kaum.

Wichtige europäische Konferenzen, die abgesagt werden müssen – weil es keine Dolmetscher gibt. Brüssel als Zentrum eines Sprachwirrwarrs, wo niemand mehr den anderen versteht. Das sind keine Szenen aus einem Science-Fiction-Roman, sondern reale Befürchtungen des EU-Sprachdienstes, des größten weltweit.

Europa gehen nämlich die Dolmetscher aus. Eine absurde Vorstellung, betrachtet man die Zahlen: In der EU-Metropole wird in 23 Amtssprachen gearbeitet, etwa 3000 freiberufliche und 560 fest angestellte Dolmetscher sind im Dauereinsatz. Doch viele davon gehen jetzt in Pension: Bis 2020 müssen mehrere hundert neue Fachkräfte eingestellt werden. Und die EU weiß nicht, wo sie diese finden soll.

Nachwuchs fehlt nicht etwa für exotische Sprachen wie Estnisch oder Litauisch, sondern vor allem für Englisch, Europas inoffizielle Lingua franca. „Bis 2020 werden wir die Hälfte unserer Englischdolmetscher verlieren“, befürchtet die zuständige „Generaldirektion Dolmetschen“. Derzeit arbeiten etwa 200 Englischfachkräfte für die EU. Die meisten nähern sich dem Pensionsalter. „Es wird immer schwieriger, Dolmetscher mit Muttersprache Englisch zu finden“, klagt ein EU-Sprecher.

Eigentlich würde man erwarten, dass es in einer globalisierten Welt nur so an polyglotten Jugendlichen wimmelte. Offensichtlich ist genau das Gegenteil der Fall, zumindest in englischsprachigen Ländern: „Englisch-Nativespeaker glauben, dass sie keine Fremdsprachen brauchen“, erklärt die EU-Kommission. Tatsächlich klagen Fremdsprachen-Fakultäten an britischen und irischen Unis zunehmend über Studentenmangel. Auch für Post-Graduate-Dolmetschkurse gebe es kaum qualifizierte Bewerber, heißt es.

Ohne Englischdolmetscher geht in Brüssel aber nichts: weil Englisch die Hauptkonferenzsprache ist – und wegen des „Relaissystems“: Bei einem Treffen zwischen einem lettischen und griechischen Minister etwa werden die Worte des Redners über ein drittes Idiom übersetzt: Englisch.


Muttersprache mangelhaft.Betroffen vom Dolmetschermangel ist übrigens auch Deutsch, nach Englisch und Französisch die gefragteste Sprache in Brüssel – Tendenz steigend. Etwa 170 Deutschdolmetscher arbeiten derzeit für die EU, circa die Hälfte wird bis 2020 in Pension gehen. Die EU sucht – verzweifelt – qualifizierte Nachwuchskräfte: 2008 haben nur 18 Prozent der deutschsprachigen Kandidaten die Aufnahmetests bestanden. Das Problem sind nicht die Fremdsprachenkenntnisse: „Häufigster Grund für das Scheitern ist die mangelnde Beherrschung der Muttersprache“, so die EU-Kommission.

Um Babel-ähnliche Zustände zu verhindern, geht Brüssel in die Offensive. An Sprachinstituten soll die Qualität der Dolmetschausbildung erhöht werden. Zudem setzt die Union auf PR im Internet. Über Facebook und YouTube will man die Jugend locken. Die Botschaft: Für die EU zu dolmetschen sei einfach „cool“. Ob das nützt?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2010)

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