Die Ohrenzeugin

Renée Haferkamp war die erste Frau, die sich in der Europäischen Kommission eine Führungsposition erkämpfte. Von de Gaulle über Schmidt bis Thatcher kannte sie alle Größen Europas, denn sie übersetzte ihre Worte – und damit ihre Ideen.

Athen, Flughafen, 1961. Eine Maschine der belgischen Regierung rollt langsam über die Landebahn. Drinnen sitzen Walter Hallstein, der deutsche Präsident der Europäischen Kommission, und Paul-Henri Spaak, Belgiens Außenminister. Das Flugzeug stoppt, die Tür öffnet sich, ein roter Teppich wird sichtbar. Hallstein rappelt sich hoch, stürzt zur Tür, um das Flugzeug als Erster zu verlassen, doch wie der geölte Blitz fährt Spaak seinen Ellbogen aus, rammt Hallstein zur Seite und betritt als erster griechischen Boden.

„Ich war damals ganz jung – aber das werde ich nie vergessen“, sagt Renée Haferkamp. Als Chefdolmetscherin des legendären Hallstein flog sie nach Athen mit. „An dem Tag bin ich Euroskeptikerin geworden. Denn Hallstein sah sich als Präsident eines Gouvernement européen, mit allen äußeren Zeichen der Macht. Aber wenn sogar Spaak, der beste Europäer, den ich je kannte, mit dem Kommissionspräsidenten nach dem Motto ,Wir sind ein Staat, was bist du?‘ umgeht, dann können Sie sich vorstellen, wie Sarkozy und solche Leute reagieren würden.“


Nie wieder. Allerdings darf man sich Renée Haferkamp, die Gründerin des Übersetzerdienstes der Europäischen Institutionen, nicht als Gegnerin der tieferen Einigung Europas vorstellen. Im Gegenteil: Von klein auf prägte ihr die amerikanische Mutter den Gedanken der Völkerverbindung tief ein. „Sie sagte stets: ,Ich möchte, dass du für Europa arbeitest, damit so etwas nie wieder passiert, damit man nie wieder einen Krieg bekommt und all diese schrecklichen Nazisachen.‘“

Wie das Schicksal so spielt, fügt sich oft das Hilfreiche in das Zufällige. Anfang der 1950er-Jahre traf die junge Sprachlehrerin auf einem Schiff von Le Havre nach New York auf Paul-Henri Spaak, der gerade für das UN-Kinderhilfswerk Unicef zu arbeiten begann. „Meine Mutter drängte mich: ,Der Spaak ist auf dem Schiff! Geh hin zu ihm und sag, du möchtest für Europa arbeiten!‘“ Der hoch angesehene belgische Staatsmann hörte sich Haferkamps Vorbringen an und meinte nur: „Was Ihre Mutter will, interessiert mich nicht – können Sie Englisch?“

Konnte sie. Und übersetzte fortan Spaaks Vorträge. Bloß verlor der das Interesse an Unicef im selben Ausmaß, wie er sich für Europas Einigung zu begeistern begann. „Die Idee war: 30 Minuten Unicef, eine Viertelstunde Europa. Nach einiger Zeit waren es 40 Minuten Europa und fünf Minuten Unicef. Da haben sie ihn rausgeschmissen.“ So verloren beide ihren Job. Doch Spaak stellte Haferkamp dem Chefdolmetscher des Europarates vor, der der Vater der Schauspielerin Simone Signoret war. „Also bin ich mit diesem Herrn Kaminker in einem Café gesessen, und er sagte: ,Erzählen Sie mir etwas übers Theater, Poesie, in allen Sprachen.‘“ Der Grundstein einer großen europäischen Karriere war gelegt.


Thatchers Lipstick. Dolmetscher brauchte Europa. Im Brüsseler Schloss Val Duchesse begannen unter Spaak die Verhandlungen über die Verträge, die 1958 in Rom unterzeichnet wurden und die Europäischen Gemeinschaften begründeten. „Ich war 25 und wurde Chefin des Dolmetscherdiensts in Val Duchesse.“

Die Zusammenarbeit mit Hallstein, für den sie nach Val Duchesse den Übersetzerdienst aufbaute, hat Haferkamp im Guten wie im Schlechten geprägt. „Er war ein ganz, ganz starker Mann mit einer natürlichen Autorität. Die ganze Hierarchie in der Kommission kommt noch von ihm.“ Gleichzeitig war sein Frauenbild äußerst antiquiert. „Ich bin sehr gut mit ihm gestanden, aber dass ich eine Frau war, dass ich jung war, dass ich ein Kind hatte, war für ihn entsetzlich. Dadurch kamen die Frauen lange nirgendwo durch. Ich fand das skandalös.“

1982 wurde Haferkamp Generaldirektorin. Für zehn Jahre blieb sie die einzige Frau in einer Führungsposition in der Kommission. Dass diese Zeit noch keine drei Jahrzehnte her ist, wirkt unglaublich, wenn man sich vor Augen führt, wie vergangenen Herbst ein Sturm der Entrüstung losbrach, als die 27 Regierungen zunächst nicht einmal ein Drittel der neuen Kommissarsposten mit Frauen besetzen wollten.

Der stärkste Staatsmann, dessen Worte und Ideen sie übersetzt hat, war eine Frau. „Thatcher war die Beste. Die hat sie alle dominiert“, sagt Haferkamp. „Alle hatten Angst vor ihr, der Delors, der Kohl, alle. Die Männer haben sie gehasst, weil sie besser war. Budgetäre Disziplin, Agrarreform, Subsidiarität: die besten Ideen kamen von ihr.“ Die Iron Lady hatte aber auch ihren Charme. „Ich traf sie einmal auf der Toilette, da standen Blümchen und ihr Parfum, aber sie fand das nicht genug und sagte: ,Why don't we have a little shop to buy some lipstick?‘ Ist doch süß!“

Auch Charles de Gaulle ist Haferkamp positiv in Erinnerung. „So etwas gibt's heute ja nicht mehr, ein Grandseigneur, sehr erstaunlich.“ Aber auch ein Mann aus einer anderen Zeit. „Er kam zu einem Gipfel mit Simultanübersetzung. So etwas hatte er noch nie erlebt. Hinterher ist er vor den Dolmetscherkabinen gestanden wie manchmal die Männer vor den Garderoben von Tänzerinnen und wollte sehen, wie das alles funktionierte.“

Die stärksten deutschen Politiker, die Haferkamp erlebte, waren Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher. „Genscher war der beste Außenminister, den ich je gesehen habe. Seine Ruhe! Der Mann konnte dasitzen, hat drei Stunden nichts gesagt, dann plötzlich drei Sätze, und das war immer der Wendepunkt der Sitzung.“


Direkter Draht. Auch die beste Übersetzung kann nie das direkte Gespräch ersetzen. Das kann man am Auf und Ab in der deutsch-französischen Beziehung ablesen. „Die einzigen Zeiten einer echten Freundschaft waren unter Schmidt und Giscard d'Estaing und unter Genscher und Dumas. Schmidt und Giscard haben sich in jeder Sitzung sofort nebeneinander gesetzt und auf Englisch gequasselt.“ Das konnten Helmut Kohl und François Mitterrand nicht. „Man darf nie unterschätzen, was es bedeutet hat, dass Thatcher weder mit Mitterrand noch mit Kohl direkt reden konnte“, sagt Haferkamp. „Der Niederländer Ruud Lubbers konnte eine enorme Rolle spielen, weil er der Einzige war, der sich ohne Dolmetscher mit den dreien zusammensetzen konnte.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2010)

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