Hinter einer Mauer der Höflichkeit

Zehn Jahre hat Hideo Yokoyama an dem furiosen „64“ geschrieben.
Zehn Jahre hat Hideo Yokoyama an dem furiosen „64“ geschrieben.(c) Bungeishunju
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Hideo Yokoyamas Polizeiroman »64« nimmt den Leser auf eine fesselnde Reise in eine fremde Welt mit. Unaufgeregt erzählt er von einem Aufrechten, der sich nicht unterkriegen lässt.

Mikami ist Pressedirektor eines kleinen japanischen Polizeireviers. Auf dem Mann lastet immenser Druck: Seine Tochter Ayumi ist vor drei Monaten spurlos verschwunden. Gleich zu Beginn von „64“ steht der Polizist nach vierstündiger Anreise mit seiner Frau Minako im Leichenschauhaus vor einem toten Mädchen. Es ist nicht sein Kind, das da unter dem Laken liegt, aber die quälende Ungewissheit bleibt weiterhin sein erbarmungsloser Begleiter.
Als wäre sein Leben nicht ohnehin schon in einem unerträglichen Ausnahmezustand, gerät Mikamis geordnete Welt auch beruflich plötzlich zu einem unübersichtlichen Schlachtfeld mit vielen Nebenfronten. Der Presseclub, die Vereinigung lokaler Medien, machen Druck, weil sich Mikamis Pressestelle weigert, die Identität einer schwangeren Frau bekannt zu geben, die einen alten Mann mit dem Auto niedergefahren hat.
Zu allem Überfluss kündigt sich auch noch der Generalinspekteur der Nationalen Polizeibehörde an, der einen öffentlichkeitswirksamen Auftritt plant. Der niemals gelöste Entführungsfall mit dem Aktenzeichen „64“ war einst eine bittere Schmach: Nach der erfolgten Lösegeldübergabe konnte das entführte Mädchen nur noch tot aufgefunden werden. Vor dem Haus des Vaters des Opfers will der wichtige Mann aus Tokio 14 Jahre nach der Tat verkünden, dass der Fall neu aufgerollt wird. Mikami fällt die undankbare Aufgabe zu, den gebrochenen Vater von diesem PR-Spektakel zu überzeugen.
Darüber hinaus tobt im Hintergrund ein beinharter Machtkampf zwischen dem Kriminaluntersuchungsamt KUA (für das Mikami die meiste Zeit seines Polizistenlebens arbeitete) und der Polizeiverwaltung (für die Mikami aktuell tätig ist). Dass er von der Existenz eines geheimen Memos zu „Fall 64“ erfährt, macht sein Leben auch nicht gerade leichter.

Die Kunst des Lavierens. Obwohl „Thriller“ auf dem Cover des Buches steht, ist „64“ kein rasanter Pageturner aus dem fiebrigen Großstadtdschungel Japans. Die Spannung entsteht anders. Behutsam erzählt Autor Hideo Yokoyama, der zehn Jahre an dem Buch geschrieben hat, von Mikamis Lavieren durch das private und berufliche Minenfeld. Jedes eigene Wort will genau überlegt sein, jedes Wort der Gegenspieler richtig gedeutet werden – alles, ob ausgesprochen oder nicht, landet auf einer fein austarierten Waagschale. Hinter der Mauer von Höflichkeit bleibt viel verborgen. Mikami will das Richtige tun, nicht sich auf die eine oder andere Seite stellen müssen. Für ihn ist Amamiya, der Vater des entführten und getöteten Kindes, als Mensch wichtig – nicht, um seine Karriere voranzutreiben. Er will die Wahrheit wissen, während andere ihre Ränkespiele treiben und bloß um ihre Positionen besorgt sind.
Nüchtern beschreibt Yokoyama auf über 750 Seiten das moderne Japan. Es ist eine faszinierende Reise in eine fremde Welt, auf die der Autor seine Leser mitnimmt.

Die M-Namen. Einzig diese unglaublich zahlreichen M-Namen verflucht man: Warum müssen all diese Leute Minako, Matsuoka, Mikura, Minegishi und Mochizuki heißen? Und Arakida, Ashida oder Akama? Welcher gehört noch einmal zum KUA, und wer ist Gegenspieler in der Verwaltung? Dass aber ausgerechnet diese M-Namen bei der Lösung des Entführungsrätsels eine entscheidende Rolle spielen, ist nur ein weiteres stimmiges Detail in diesem furiosen Roman.

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