Gastkommentar

Die Verhärtung der Fronten im Diskurs um den Islam

Warum muslimische Jugendliche ihren Glauben offensiv vor sich her tragen, obwohl sie gar nicht besonders religiös sind.

Mit den neuesten Veröffentlichungen rund um die Moscheen der Türkisch-islamischen Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich (Atip) und den sich häufenden Berichten über konservative muslimische Jugendliche stellt sich immer öfter die Frage nach dem passenden Umgang mit zunehmenden autoritären und nationalistischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft.

Ja, es gibt sie, die tief-nationalistische Gesinnung in der türkischen Gemeinschaft – und das zuhauf. Diese werden auch nicht verschleiert, sondern ganz bewusst stolz nach außen getragen.

Der Kult rund um den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nimmt, trotz seiner autoritären Maßnahmen, nicht ab, auch nicht unter den Jugendlichen, so zumindest meine Wahrnehmung. Überrascht bin ich deshalb nicht. Es ist Teil der türkischen außenpolitischen Strategie, die Eskalationsspirale weiterzudrehen und sich damit als Bollwerk gegen „westliche Doppelmoral“ zu stilisieren. Für manche wird Erdoğan dadurch zu einem Symbol des Widerstands, das mit beliebigen Erfahrungen hierzulande aufgeladen werden kann und das natürlich auch mit einer Portion Loyalität gegenüber dem Land verbunden wird, in dem man Wurzeln hat.

Rückzug oder Offensive?

Ein Verbot von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker in Europa ist demnach genau das gewünschte Resultat der Führung in Ankara. Mehr noch: Das Verbot führt unausweichlich zu einem Triumph Erdoğans, der dadurch Anhänger gewinnt beziehungsweise seine Position bei diesen noch verstärkt.

Die für uns relevantere Folge ist jedoch jene, dass türkischstämmige Bürger und Bürgerinnen sich durch ein solches Verbot zunehmend an den Rand gedrängt fühlen. Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus, doch gibt es zwischen Rückzug (also einer weitgehenden Abkapselung) und Offensive (im Sinne sich verstärkender reaktionärer Einstellungen) nicht viel Spielraum. So viel zum türkischen Nationalismus.

Nicht anders ist es in den Communities aus dem ehemaligen Jugoslawien. Auch bei diesen ist Nationalismus nie ein Randphänomen gewesen, und auch hier trägt man ihn bewusst nach außen. Ja, Auseinandersetzungen zwischen serbischstämmigen und kroatischen Österreichern waren vermutlich die Konflikte, die ich in Jugendjahren am meisten beobachtet habe. Jugendtypische Provokationen und normale Meinungsverschiedenheiten sind dann durch Erzählungen der Eltern meistens noch zusätzlich ethnisch und religiös aufgeladen worden.

Ähnliche Entwicklungen beobachte ich seit Jahren auch in den muslimischen Gemeinschaften. Dabei wird der Identitätsaspekt Islam besonders stark nach außen gelebt. „Ich bin stolzer Muslim“ ist bei muslimischen Jugendlichen keine seltene Aussage. Junge Muslime und Musliminnen definieren sich häufig über ihre religiöse Zugehörigkeit. Das ist eine Entwicklung die gewiss viele wahrnehmen, die mit muslimischen Jugendlichen arbeiten. Von manchen wird auch schon das heutige Straßenbild als eine Tendenz in Richtung „mehr Islam“ gewertet.

Wenn man die diversen neuen Statistiken zu diesem Thema kennt, so weisen diese aber auf eine abnehmende Religiosität bei den jüngeren Generationen hin – ja sogar eine Tendenz in Richtung Säkularisierung – bis hin zur Abwendung von der Religion (vgl. Michael Blume: „Islam in der Krise“). Dies erscheint zunächst wie ein Widerspruch zur derzeitigen öffentlichen Wahrnehmung.

Unabhängig davon, wie sehr solche Wahrnehmungen vom gesellschaftlichen Klima eingefärbt werden: Sie sind – zumindest für manche Leute – berechtigt, sind Teil ihrer Realität und deshalb diskussionswürdig. Wie gehen wir also mit diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen um?

Betonung des Türkischseins

Im Grunde genommen gibt es hier keinen Widerspruch, denn was ich immer wieder beobachte, ist: Je bedrohter sich ein Individuum in einem Bestandteil seiner Identität fühlt, umso stärker wird dieser betont und der Außenwelt präsentiert. Als Identitätsanteil verstehe ich hierbei einen wichtigen Aspekt im Leben einer Person, über den sich diese (neben anderen Identitätsteilen) definiert. Das kann ein Geschlecht sein, eine Glaubensrichtung, die ethnische Herkunft oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse.

Das bedeutet, dass etwa türkischstämmige Bürger und vor allem Jugendliche, denen vermittelt wird, dass ein Teil ihrer selbst – nämlich der türkische Teil (oder der islamische Teil) – hierzulande nicht erwünscht sei, mit großer Wahrscheinlichkeit dazu übergehen, dieses „Türkischsein“ (oder Islamischsein) mit allen Mitteln verteidigen zu wollen und deshalb immun gegenüber jeglicher Kritik und anderen Ansichten werden. Derartige Kränkungen im Identitätsbewusstsein sind ein optimaler Nährboden jeder autoritären Gesinnung.

Religion als Identitätsmarker

Mit diesem Erklärungsmodell erscheint es auch nicht mehr als Widerspruch, wenn junge Muslime sehr schnell emotional werden, sobald sie auch nur das Gefühl haben, dass ihr Gegenüber ihren Glauben beleidigt, während sie sich jedoch selbst nicht an die gängigen Regeln der Religionsausübung halten, etwa dem Alkoholverbot, dem Verbot von Geschlechtsverkehr vor der Ehe usw.

Für viele Jugendliche in der Gegenwart ist ihr Glaube zu einem normativen und erstrebenswerten Konstrukt geworden, mit dem sie sich gern identifizieren, an das sie sich aber nicht immer halten können. Es ist ganz generell gesprochen nicht einfach für einen jungen Menschen, sich an die klassischen religiösen Gebote der drei monotheistischen Religionen zu halten. Plakativ gesprochen tragen also viele ihren Glauben vor sich her, anstatt ihn zu leben – ohne Wertung gesprochen.

Dabei ist aber eben auch festzuhalten, dass je autoritärer der Diskurs um den Islam und die Muslime wird, umso dominanter wird dieser vor sich hergetragen. Er wird zum Ausdruck des Protests, des Widerstands – vielmehr noch, zum Versuch, diskursprägend sein zu können und gehört zu werden. Um das zu erreichen, ist Jugendlichen jedes Mittel heilig.

So wird Religion zu einem Identitätsmarker. Vor allem dort, wo das – zum Teil berechtigte – Gefühl der Be- und Verdrängung dieser Identität durch politische Diskurse, verbale oder physische Übergriffe tatsächlich existiert.

Alternative zu Nationalismen

Identität erscheint mir in allen integrationsspezifischen Debatten daher das Schlüsselwort zu sein. Die Frage, die wir uns demnach stellen müssen, ist, wie wir es schaffen, eine kollektive Identität als Alternative zu Nationalismen und autoritären Gesinnungen zu etablieren. Eine Identität, die ergänzend zu den eigenen Einstellungen wirkt und nicht ausschließend. Dafür brauchten wir aber auch ein neues Identitätsverständnis. Eines, das Identitäten als dynamische und wandelbare Konstrukte begreift, statt sie als starr und statisch zu sehen.

DER AUTOR

Rami Ali (25) ist Wiener mit ägyptischen Wurzeln. Der Autor ist Politologe, Trainer und Vortragender. Rami Ali ist vorwiegend in der Konfliktprävention und Erwachsenenfortbildung tätig und lehrt zu Themen rund um Integration, Diversität, interkulturelle Kommunikation, Islam, Extremismus und Prävention sowie zur politischen Lage im Nahen Osten.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.