Filmfestival Cannes: Buhrufe unerwünscht

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Entertainment Bilder des Tages 71eme Festival International du Film de Cannes Photocall du film Eveimago/Starface
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Die 71. Filmfestspiele von Cannes sind in vollem Gange. Der Clinch mit Netflix geht weiter, Hollywood bleibt eher daheim – und #MeToo hat auch die Côte d'Azur erreicht.

Alles neu in Cannes? Oder alles wie gehabt? Ist das Filmevent am absteigenden Ast? Oder befindet es sich im produktiven Umbruch? Wie bei fast allen Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem berühmtesten Filmfestival der Welt stellen, hängt die Antwort von der Perspektive ab: Keine vergleichbare Veranstaltung lockt so viele Menschen mit so unterschiedlichen, ja unvereinbaren Bezügen zum Kino an. Noch bevor die altgedienten Filmfestspiele am Dienstag ihre 71. Ausgabe einläuteten und Javier Bardem und Penélope Cruz, Star-Paar des Eröffnungsfilms „Everybody Knows“, über den roten Teppich vor dem Palais des Festivals spazierten, wägten Kritiker und Kommentatoren Für und Wider des aktuellen Programms.

Hat Cannes seinen Glanz verloren? So rätselte der „Hollywood Reporter“. Eine Reaktion auf den Mangel vieler großer Regie-Namen, deren Teilnahme am Wettbewerb fix schien. Auch die Präsenz von US-Prominenz an der sonnigen Croisette wird sich heuer in Grenzen halten, trotz der Weltpremiere eines neuen Unterkapitels der „Star Wars“-Saga außer Konkurrenz. Wer europäische Festivals als Oscar-Rampe sieht, geht lieber nach Venedig, heißt es mittlerweile – das liegt zeitlich näher an der US-amerikanischen Trophäenjagdsaison. Hinzu kommt eine Zuspitzung des 2017 begonnenen Geplänkels mit dem Streaming-Giganten Netflix. Dieser will Eigenproduktionen in Cannes zeigen (Prestige! Aufmerksamkeit!), aber keine drei Jahre mit einer Online-Veröffentlichung warten – eine Auflage des französischen Filmsektors. Letztes Jahr liefen hier zwei Netflix-Beiträge, heute kein einziger; Kinokapazunder wie Paul Greengrass und Alfonso Cuarón blieben mit ihren neuen Werken außen vor.

Doch des einen Leid ist des anderen Freud: Ganze zehn Cannes-Newcomer, ein paar davon noch völlig unbekannt (etwa A. B. Shawky, ein ägyptisch-österreichischer Langfilm-Debütant) rittern diesmal um die Goldene Palme. Viele freuen sich über die neuen Gesichter: Dank ihnen könnte endlich wieder frischer Wind durch das notorisch traditionsversessene Festival wehen.

Einst beliebter Gast: Harvey Weinstein

Auch die #MeToo- und „Time's Up“-Bewegung (bzw. ihre französische Verwandte, die Gleichberechtigungs-Initiative „50/50 pour 2020“) hat Cannes erreicht. Bis vor Kurzem war Harvey Weinstein hier noch ein oft und gern gesehener Gast, viele Missbrauchsfälle sollen sich in Hotels an der Côte d'Azur ereignet haben, heuer setzt es Signale der Besserung: Eine Hotline für Opfer und Zeugen sexueller Gewalt wurde eingerichtet, die Jury ist überwiegend weiblich besetzt. Bei der Eröffnung begrüßte deren Vorsitzende Cate Blanchett die Anwesenden mit den Worten „Ladies, Ladies, Ladies, Gentlemen“.

Nicht unter den Anwesenden sind heuer der Iraner Jafar Panahi und der russische Regisseur Kirill Serebrennikow: Beide stehen in ihrer jeweiligen Heimat unter Hausarrest. Serebrennikows Team nutzte die Premiere seines Wettbewerbsbeitrags „Leto“ am Mittwoch für Protest: Mit seinem Konterfei an der Brust und einem Plakat seines Namens.

Die Verwandlung des Festivals in ein Security-Bollwerk sorgte letztes Jahr noch für milde Aufregung, heuer scheinen sich die meisten an die flughafenartigen Kontrollen vor dem Festivalzentrum gewöhnt zu haben. Pressevertreter erhalten eine handliche Merkliste mit sinnfälligen Verhaltensregeln: Wachsam bleiben, Gepäck nicht unbeaufsichtigt lassen, keine Waffen im Hauptareal. Ob Buhrufe auch zum Gefahrgut zählen? Die ruppige Rezeption manch eines Wettbewerbsbeitrags nennt Cannes-Intendant Thierry Frémaux jedenfalls als Grund für eine Änderung des Pressevorführungsschemas: Kritiker sehen viele Filme nicht mehr vor, sondern parallel zu Premieren, Rezensionen erscheinen somit später.

Cannes Eroeffnungsfilms
Cannes EroeffnungsfilmsMemento Films

Dem bereits erwähnten Eröffnungsfilm „Everybody Knows“ blieben Verachtungs-konzerte erspart. Darin verlagert der Auslandsoscar-Gewinner Asghar Farhadi seine Erkundungen moralischer Mehrdeutigkeit aus dem Iran nach Spanien: Eine Frau (Cruz) fährt mit den Kindern zu einer Hochzeit in ihren Heimatort, wo auch der Ex-Geliebte und Weinmacher (Bardem mit Freigeist-Ohrring) lebt. Anfangs ist alles eitel Wonne und mediterranes Lebensgefühl. Doch wie schon in Farhadis „About Elly“ und zuletzt „The Salesman“ werden die Hauptfiguren durch ein einschneidendes Ereignis dazu gezwungen, ihre Selbst- und Weltbilder genauer unter die Lupe zu nehmen, sukzessive kommt Verborgenes ans Licht.

Thriller trifft auf Telenovela

Farhadi flirtete schon oft mit verschiedenen Genre-Elementen. „Everybody Knows“ weist Thriller-, Krimi- und Telenovela-Spuren auf, die Melodramatik des Drehbuchs droht die Schauspieler zuweilen zu überfordern. Wirklich spannend im klassischen Suspense-Sinn wird es jedoch nur selten: Das Interesse des Films gilt vor allem Zweifeln, Ängsten und zwischenmenschlichen Beziehungen, die in einem komplexen sozialen und familiären Gefüge zirkulieren, wo jeder von jedem abhängig ist und sich niemand aus der Verantwortung ziehen kann: Im örtlichen Kirchturm tickt die Glockenmechanik schon wie eine ominös-symbolische Schicksalsuhr. Der Film verflechtet so viele Gefühlsstränge, dass man sich als Zuschauer beinahe darin verheddert. Am Ende geht es um Geheimnisse, die Kraft ihrer Wahrung und Offenbarung. Der Wettbewerb von Cannes hält heuer noch ein paar davon bereit – bis 19. Mai werden sie gelüftet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2018)

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