Die Ermittlungen nach dem Fund der Leiche eines sieben Jahre alten Mädchens in Wien-Döbling laufen. Nicht nur im Gemeindebau wird spekuliert. Psychologin Sandra Pitzl erklärt Gerüchte als eine Art Strategie.
Sorgfältig breitet ein älterer Tschetschene seinen Gebetsteppich auf der Wiese des Dittes-Hofes in Wien-Döbling auf. Er schaut auf seinen Kompass und überprüft, ob die Richtung nach Mekka stimmt. Dann betet er. Neben ihm brennen Dutzende Kerzen. Auch Stofftiere und Kinderzeichnungen sind aufgereiht. Es ist der Ort, wo vergangenen Samstag die Leiche eines siebenjährigen Mädchens von der Polizei in einem Müllcontainer entdeckt wurde.
Seitdem herrscht in der Siedlung stumme Angst. Die Mütter sitzen aufmerksam am Rand des Spielplatzes in dem Innenhof und beobachten ihre Kinder. „Solange die den Täter noch nicht haben, lass ich sie keine Sekunde aus den Augen“, sagt eine Bewohnerin. Ihre Tochter malt nur zwei Meter vor ihr etwas mit Kreide auf den Beton. Das siebenjährige Opfer kennt hier jeder. „Die Kinder wissen schon, dass sie nicht mehr da ist. Aber ich glaube, sie können das alles noch nicht richtig erfassen.“
Schutzfunktion von Gerüchten
Das geht nicht nur den Kindern so. Es sind zu viele Fragen, die noch offen sind: Vor allem jene nach dem Täter und jene nach dem Warum, nach dem Motiv.
Je mehr Fragen unbeantwortet sind, desto eher neigen wir aber offensichtlich dazu, uns Antworten zurechtzulegen. Das reicht von wilden Gerüchten und Spekulationen im Dittes-Hof, einem Gemeindebau (und darüber hinaus), wer hinter der Tat stecken könnte. Nachbarn werden beschuldigt. Wer nett zu fremden Kindern (und ein Mann) ist, wird schnell verdächtigt. Bis hin zu rassistischen Hasspostings im Internet, die die Herkunft des Mädchens – die Eltern stammen aus Tschetschenien – in den Vordergrund stellen.
Selbst die Polizei fühlte sich Montagnachmittag veranlasst, ausdrücklich darauf hinzuweisen, Spekulationen, Mutmaßungen, Falschmeldungen und Gerüchte zu unterlassen, da diese den Ermittlungen nicht dienlich sind.
Vermeiden lassen sie sich ob der drängenden Fragen allerdings nicht. „Es ist in der Notfallspsychologie ganz wichtig, dass Menschen möglichst viele Informationen bekommen. Wenn man nicht weiß, wer der Täter ist – und das tagelang, führt das zu großer Verunsicherung“, erklärt Sandra Pitzl, stellvertretende Leiterin der Fachsektion Notfallpsychologie im Berufsverband Österreichischer Psychologen der „Presse“.
Die Unsicherheit führe zu Mutmaßungen und Gerüchten, mit denen man die Kontrolle wieder erlangen möchte. „Dann ist es leichter so etwas auszuhalten. Man versucht Antworten zu finden, um der Angst entgegenzusteuern und um nicht ganz ausgeliefert zu sein.“ Der Wunsch nach Klarheit ist offenbar so groß, dass Menschen lieber eine falsche Information haben, als gar keine. Das sei auch eine Art Schutzfunktion.
Es gehe offensichtlich darum, das Geschehen einzuordnen, zu strukturieren und der Hilflosigkeit zu entkommen. „Die Kontrolle habe ich leichter, wenn ich jemanden die Schuld geben kann“, so die Psychologin. Je dramatischer und unerklärlicher eine Tat ist, desto eher haben wir das Bedürfnis, sie zu erklären. Immerhin gehe mit so einer Tat eine „Erschütterung des eigenen Weltbildes“ einher.
Wie man es Kindern erklärt
Hinzu komme auch die Angst, dass den eigenen Kindern so etwas passiert. Natürlich sei es sinnvoll, derzeit (vor allem in unmittelbarer Umgebung) besonders vorsichtig zu sein. Allzu drastische Maßnahmen, die Kinder verstören, sollte man aber nicht vornehmen. Pitzl rät auch dazu, Kindern, die die Tat (etwa über Medien) mitbekommen haben, nichts zur verheimlichen – vor allem, wenn sie nachfragen –, sie aber auch nicht mit Details zu belasten. „Man sollte sachlich bleiben und sich an den Fakten orientieren. Kinder holen sich die Information, die sie brauchen und wissen auch, wann es ihnen zu viel ist.“ Lieber auf die Fragen der Kinder gezielt antworten und ehrlich sein. „Eltern müssen nicht alles wissen. Da kann man ruhig sagen, dass die Polizei daran arbeitet und man noch nicht alles weiß.“
Mehr können derzeit auch die Bewohner des Dittes-Hofs ihren Kindern nicht sagen. Der ältere Bruder des Opfers geht mit hängendem Kopf über den Hof. Er kommt gerade von der psychologischen Betreuung. Vor den brennenden Kerzen und den Kinderzeichnungen bleibt er stehen. Wortlos schaut er auf die abgelegten Rosen und Stofftiere. Der ältere Tschetschene beendet sein Gebet, rollt seinen Teppich zusammen und nickt dem Hinterbliebenen zu.