"Tag der Katastrophe": Palästinenser starten Generalstreik

Ein Bild vom 14. Mai, an dem die Proteste an der Grenze zwischen Israel und dem Gaza-Streifen erneut eskalierte.
Ein Bild vom 14. Mai, an dem die Proteste an der Grenze zwischen Israel und dem Gaza-Streifen erneut eskalierte.APA/AFP/THOMAS COEX
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Alle Geschäfte, Schulen und Bildungseinrichtungen in den Palästinensergebieten sind geschlossen. Die Opferzahl nach den gestrigen Protesten stieg auf 59 - auch ein Baby soll ums Leben gekommen sein.

Einen Tag nach den folgenschwersten Protesten im Gazastreifen seit Jahren haben die Palästinenser des 70. Jahrestages der Al-Nakba (deutsch: Katastrophe) gedacht - der palästinensische Tag der Erinnerung an die Vertreibung und Flucht von mehr als 700.000 Landsleuten nach der Staatsgründung Israels.

Nach den Protesten mit 60 Toten am Vortag entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel wurden am Dienstag neue Auseinandersetzungen befürchtet. Israel stand international im Kreuzfeuer der Kritik.

Bei neuen Konfrontationen mit israelischen Soldaten am Gazagrenzzaun ist ein Palästinenser getötet worden. Der Mann sei erschossen worden, teilte das Gesundheitsministerium in Gaza am Dienstag mit. Die Armee sprach von rund 400 Palästinensern, die an gewaltsamen Protesten im Grenzgebiet beteiligt seien.

2400 Verletzte

Am Montag, dem 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels, war es zusätzlich aufgeheizt durch die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem zu besonders gewaltsamen Protesten gekommen. Es wurde der blutigste Tag im Nahost-Konflikt seit 2014: Mindestens 60 Palästinenser wurden getötet, mehr als 2.400 verletzt. Zehntausende Palästinenser protestierten am Grenzzaun gegen Israel.

Unter den Getöteten waren auch mehrere Kinder. Der palästinensische UNO-Vertreter in New York sprach von acht toten Kindern unter 16 Jahren. Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas (Abu Mazen) warf Israel ein "Massaker" vor und kündigte eine dreitägige Staatstrauer an.

Baby angeblich an Tränengas erstickt

Auch ein palästinensisches Baby ist nach Behördenangaben gestorben, nachdem es während der blutigen Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der israelischen Armee Tränengas eingeatmet hatte. Das Mädchen sei acht Monate alt gewesen, berichtete das Gesundheitsministerium im Gazastreifen am Dienstag. Es habe den Reizstoff am Montag östlich von Gaza-Stadt eingeatmet, hieß es weiter.

Zunächst blieb unklar, wie nah am Grenzzaun das Kind und seine Familie sich zu diesem Zeitpunkt aufhielten. Bei der blutigsten Gewalt im Nahost-Konflikt seit Jahren waren am Montag mindestens 58 Palästinenser getötet und mehr als 2400 verletzt worden.

Israel verteidigte das Vorgehen der Armee dagegen als notwendig, um ein Übertreten des Grenzzauns zu verhindern, und warf der Hamas vor, diese habe die Proteste als Vorwand für Gewalt nutzen wollen. Regierungschef Benjamin Netanyahu sprach von der "Pflicht Israels zur Verteidigung seiner Grenzen". Ähnlich äußerte sich Verteidigungsminister Avigdor Lieberman.

Internationale Besorgnis über Gewalt

Die Türkei und Südafrika riefen ihre Botschafter aus Israel zu Beratungen zurück. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warf Israel "Staatsterrorismus" und "Völkermord" vor. Netanjahu nannte Erdogan postwendend den "größten Unterstützer der Hamas". Erdogan sei daher "zweifellos ein Experte in Sachen Terror und Gemetzel".

Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim forderte alle islamischen Staaten auf, ihre Beziehungen zu Israel zu überdenken und "mit einer Stimme gegen das Massaker zu sprechen". Die türkische OIC-Präsidentschaft habe für Freitag eine Dringlichkeitssitzung der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) einberufen.

Auch Russland und China äußerten ihre Besorgnis angesichts der Gewalt. Der französische Präsident Emmanuel Macron verurteilte in Telefonaten mit Abbas und dem jordanischen König Abdullah "die Gewalt der israelischen Streitkräfte gegen die Demonstranten".

Deutschland und Großbritannien erklärten, eine unabhängige internationale Untersuchung zu unterstützen. "Ich kann für die Bundesregierung nur sagen, dass auch nach unserer Auffassung eine unabhängige Untersuchungskommission die geschehene Gewalt und die blutigen Zusammenstöße im Grenzraum aufklären könnte", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin.

Belgien hat die israelische Botschafterin in Brüssel nach einer umstrittenen Äußerung zur Gewalt im Gazastreifen ins Außenministerium zitiert. Das teilte ein Regierungssprecher am Dienstag in Brüssel mit. Die Botschafterin Simona Frankel hatte zuvor im belgischen Radiosender La Premiere gesagt, die am Montag im Gazastreifen getöteten Palästinenser seien allesamt "Terroristen".

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte das israelische Vorgehen als "schändliche Verletzung des internationalen Rechts und der Menschenrechte im Gazastreifen". Der Sprecher des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte, Rupert Colville, sagte, der Einsatz tödlicher Gewalt dürfe nur allerletztes Mittel sein.

Dagegen wies die US-Regierung, traditionell engster Verbündeter Israels, der Hamas die Verantwortung zu. Die Reaktion der israelischen Armee sei "absichtlich und zynisch" von der Hamas provoziert worden, Israel habe "das Recht, sich selbst zu verteidigen", sagte ein US-Regierungssprecher.

USA blockieren UNO-Erklärung

Nach Angaben von Diplomaten blockierten die USA am Montagabend eine Erklärung des UNO-Sicherheitsrates, in der eine unabhängige Untersuchung der Gewalt gefordert werden sollte. Auf Antrag Kuwaits kommt der Sicherheitsrat am Dienstag um 16.00 Uhr MESZ zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen.

Der endgültige Status Jerusalems ist einer der größten Streitpunkte im Nahost-Konflikt. Die palästinensische Führung von Präsident Abbas beansprucht den 1967 von Israel besetzten und 1980 einseitig annektierten Ostteil Jerusalems als künftige Hauptstadt des von ihnen angestrebten eigenen Staates. Die Hamas dagegen will anstelle Israels einen islamischen Staat in ganz Palästina errichten.

US-Präsident Donald Trump hatte bereits im Dezember mit seiner Ankündigung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, wütende Proteste der Palästinenser ausgelöst. Die Eröffnung der US-Botschaft an diesem Datum galt als besonders heikel.

Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) hat indes die Teilnahme des österreichischen Botschafters in Israel, Martin Weiss, an einem Empfang des israelischen Außenministeriums vor der Einweihung der US-Botschaft in Jerusalem verteidigt. "Aus unserer Teilnahme am Empfang sind keinerlei völkerrechtliche Implikationen herauszulesen", sagte Kneissl im "ZiB 2"-Interview am Montag zum Boykott des Empfangs durch fast alle EU-Staaten.

(APA/dpa/AFP)

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