Wenn reale Welten mit virtuellen verschmelzen

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Der digitale Zwilling ist mehr als nur ein am Rechner simulierter Prototyp. Er bildet den gesamten Entwicklung- und Lebenszyklus eines Produkts ab. Die Zwillings-Revolution ist voll im Gange.

Geschwindigkeit ist bei Maserati stets ein wichtiges Thema. Die gerühmte Velocità italienischer Sportwagen soll ja die Kunden begeistern. Wirtschaftlich kam Maserati bis 2012 jedoch nicht auf Touren. Vor allem bei der Time-to-Market ging vieles zu langsam. 30 Monate dauerte es von der Produktentwicklung bis zur Markteinführung eines neuen Modells. Zweieinhalb Jahre, in denen Kosten entstehen, aber kein Umsatz erwirtschaftet wird – eine halbe Ewigkeit in einem strengen Wettbewerbsumfeld. Das Traditionsunternehmen unterzog sich deshalb einer radikalen Kur, für die man eine Milliarde Euro in ein neues Werk in Grugliasco nahe Turin investierte. 2013 wurde die Produktionsstätte eröffnet. „Wir treten hiermit in das ehrgeizigste Entwicklungsprojekt in unserer Geschichte ein“, bekräftigte Fiat-Chef und Maserati Chairman Sergio Marchionne damals.

Ein Ehrgeiz, der sich ausgezahlt hat. Inzwischen produziert Maserati drei Mal so viele Autos wie in den Jahren zuvor. Die Time-to-Market hat sich von 30 auf 16 Monate verkürzt. Modelle kommen aber nicht nur schneller zum Kunden, sie werden auch flexibler an dessen individuelle Wünsche adaptiert. Den Maserati Ghilbi gibt es etwa in 27 Versionen. Das Geheimnis hinter dieser rasanten Entwicklung: ein Digitaler Zwilling, also eine virtuelle Kopie des realen Modells.

„Hat man früher einen Prototyp gebaut und ausführlich getestet, bevor die Fertigung starten konnte, übernimmt diese Aufgabe jetzt der digitale Zwilling“, erläutert Luca Soriato, Maserati Product Development. Das Zusammenspiel der Tausenden Einzelteile eines Autos oder aerodynamische Tests werden bereits am Rechner simuliert. Die Folge: Eine bis zu 40 Prozent kürzere Entwicklungszeit. Ein weiteres Atout des digitalen Systems: Roboter-Automation und  -Diagnostik sind voll integriert. Probleme lassen sich somit sofort erkennen und beheben. Sind Bauteile defekt, können sie in Echtzeit bei den Lieferanten angefordert werden.

Probleme verstehen, bevor sie auftreten.

Digitale Zwillinge decken den gesamten Lebenszyklus eines Produkts, Prozesses oder Geschäftsmodells ab. „Sie verwenden reale Daten von installierten Sensoren. Diese Koppelung der virtuellen und realen Welten ermöglicht die Analyse von Daten und die Überwachung von Systemen“, erklärt Stefan Grösser, Leiter der System Dynamics Forschungsgruppe an der Universität St. Gallen. Es gehe darum, Probleme zu verstehen und zu bearbeiten, bevor sie überhaupt auftreten, Ausfallzeiten zu vermeiden, neue Chancen zu entwickeln und mit Hilfe von Computersimulationen die reale Zukunft zu planen.

„Sind reales Produkt und digitales Abbild in beide Richtungen miteinander verbunden, können neue Konfigurationen und Einstellungen am realen Produkt umgesetzt werden. So lassen sich Produkteigenschaften gezielt modifizieren und optimieren“, erläutert Moritz Schele, Senior Berater bei der Managementberatung für Innovation und Transformation, Unity. Dieser Optimierungszyklus erfolgt in mehreren Schritten. Ausgangspunkt ist stets, dass während der Nutzung eines Produkts Daten über das Produkt und das Nutzungsverhalten erfasst, gespeichert und an das digitale Abbild übertragen werden. In der digitalen Welt werden die Daten ausgewertet und analysiert. Durch die Simulation der Produkteigenschaften wird das zukünftige Produktverhalten bei geänderten Parametern und Einstellungen vorhergesagt. Mit der Auswertung der Simulationen kann eine Handlungsempfehlung für das reale Produkt abgeleitet werden.

Smarte Fabrik überwacht sich selbst.

Ehrgeize Pläne verfolgt das Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK. Ein 2017 vorgestelltes Konzept zeigt unter dem Motto „Smarte Fabrik 4.0“, wie eine reale Produktionsstätte vollständig auf digitaler Ebene nachgebildet und dabei der Fertigungsprozess im virtuellen Zwilling detailliert beobachten werden kann. Das System arbeitet bidirektional. Man kann entweder auf der virtuellen Ebene eingreifen und Änderungen vornehmen, die sich sofort simulieren lassen, oder auch Änderungen in der realen Anlage in den digitalen Zwilling einspielen – etwa wenn es um den Einbau eines neuen Arbeitsschrittes für eine Sonderanfertigung geht. Die Fertigung muss dazu nicht gestoppt und neu konfiguriert werden, da das System intelligent auf jede Variation reagiert und sich neu organisiert.

„Durch die Verschmelzung von realer und digitaler Produktion entsteht ein Gesamtsystem, das sich im laufenden Betrieb selbst überwacht, steuert und korrigiert. Maschinen und Software kommunizieren, soweit erforderlich, unabhängig vom Menschen miteinander“, erläutert Rainer Stark, Leiter des Bereichs Virtuelle Produktentstehung am Fraunhofer IPK. Sollte beispielsweise eine Störung vorkommen, kann das System selbstständig entscheiden, wie das Problem zu beheben ist. Der verantwortliche Produktionsleiter sieht die Änderung in der Produktion, muss aber nicht selbst eingreifen. In Betrieb ist am IPK bereits eine Vorführanlage zur Produktion von Getränkeuntersetzern, die vom Kunden in Form, Material und Farbe frei gestaltet werden können und anschließend direkt oder per Fernauftrag gefertigt werden. Starks Forschungsresümee: „Die smarte Fabrik ist kein modisches Schlagwort mehr, sie ist real.“

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