"Ich hätt sehr viel mehr Brutalität gebraucht"

"Nichts wäre grauslicher als der Gedanke, nur administriert zu haben" - Bruno Kreisky in Originalzitaten, zusammengestellt zu einem fiktiven Interview.

„Die Presse“: Herr Bundeskanzler a.D....

Sagen S' bittschön Herr Kreisky zu mir, nur Herr Kreisky, dös genügt.

Sie, Herr Kreisky, wurden von frühester Jugend an mit der dumpfen Wucht antisemitischer Vorurteile konfrontiert und haben über zwanzig nahe Verwandte durch den Holocaust verloren. Trotzdem waren Sie immer bestrebt, das öffentliche Gewissen des Landes in der Frage der Vergangenheitsbewältigung ruhigzustellen.

Ich bin der Meinung: Die Überwindung der Vergangenheit kann erst bei den Nachkommen Wirklichkeit werden – in der nächsten Generation. Denjenigen, die Verbrechen begangen haben, darf man die Strafe nicht ersparen. Denen jedoch, die Einsicht zeigen, die wirklich geläutert sind, darf man das Recht nicht verwehren, dass sie sich bessern und dass ihnen verziehen wird.

Gibt es zwischen Verzeihen und der geradezu aggressiven Verteidigung ehemaliger SS-Angehöriger wie des FPÖ-Obmanns Friedrich Peter nicht Unterschiede?

Da ich verstanden habe, warum Leute wie er – sein Vater war Schutzbündler – Hitler-Anhänger wurden und auch die materiellen Ursachen einer solchen Bewusstseinsänderung aus der Nähe gesehen habe – nämlich die Beseitigung der Arbeitslosigkeit zuerst in Deutschland, dann in Österreich –, ist mein Verhältnis zu ehemaligen Nazis ein anderes. Ich habe einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, auf die man verzichten kann.

Manche interpretieren Ihre Haltung auch als politisches Kalkül, das eine Zeit lang ja auch aufgegangen sei, nämlich die FPÖ als Steigbügelhalter für eine SP-Regierung und die Spaltung des bürgerlichen Lagers. Aber es ist ja auch denkbar, dass die SPÖ, die die Nationalen in die österreichische Politik hineinmanövriert hat, durch eine VP-FP-Regierung hinausmanövriert wird. Fürchten Sie das nicht?

Fürchten sicher nicht. Aber es wäre halt da etwas, was die Österreicher lange Zeit nicht gewohnt waren. Eine Bürgerblockherrschaft, oder sagen wir ein konservativer Block. Fürchten, nein, solange Österreich demokratisch bleibt, muss man sich nicht fürchten.

Thomas Bernhard hat in seinem Stück „Heldenplatz“ geschrieben: „Die sogenannten Sozialisten haben diesen neuen Nationalsozialismus erst möglich gemacht.“ Er spielt damit auf die Wahlerfolge der FPÖ unter Jörg Haider an.

Solche Werte hat die alte VdU auch bekommen, das entspricht dem deutschnationalen Lager. Verpatzt worden ist jedenfalls die Möglichkeit, aus dieser FPÖ eine wirklich andere, eine wirklich liberale Partei zu machen.

Ist das Aufblühen des Rechtspopulismus gefährlich?

Die Demokratie hat sehr dünne Wurzeln, die sich mühsam in der Zweiten Republik gefestigt haben. Wenn wirklich böse Zeiten kämen, dann erschallte der Ruf wie Donnerhall nach dem starken Mann und nach einem eisernen Besen, und ein Hitler müsste her.

„Wenn eine Machtposition zu lange in den Händen eines Mannes ist, nehmen er und das Land Schaden.“ Der Satz stammt von Ihnen. Sie waren 13 Jahre an der Macht...

Ich behaupte immer, dass ein Politiker in einer funktionierenden Demokratie keine Macht hat. Was er hat, ist eine gewisse Möglichkeit, Dinge zu beeinflussen. Seine Macht wird durch so viele Bestimmungen eingeengt, wenn er sie ernst nimmt. Macht über die Menschen gewinnt ein Zeitungsherausgeber wie der Herr Dichand. Der hat Macht. Das ist die tägliche Macht über die Köpfe der Menschen.

Im Schatten der SPÖ-Macht entwickelte sich eine unheilige Allianz zwischen politischen Konjunkturrittern, Seilschaften, Cliquen, Kriminellen und einer dubiosen Schickeria, wie der Fall Udo Proksch gezeigt hat.

Die Freunderlwirtschaft ist doch ein ganz spezielles Phänomen der österreichischen Gesellschaft. Die hat zweifellos auch Leute erfasst, die sich zu uns rechnen. Ich habe mich viel zu lange auf den Gemeinsinn dieser Leute verlassen. Darauf, dass die so etwas nicht machen können.

Megaskandale wie AKH, Lucona und Noricum haben zum Bild einer „Skandalrepublik“ geführt. Und das unter einem Bundeskanzler, der den puristischen Idealen der traditionellen Sozialdemokratie verpflichtet war.

Wenn man Sozialist ist, darf man nicht korrupt sein. Wenn man Sozialist ist, muss man gewisse Spielregeln selbstverständlich respektieren. Ich war sehr unglücklich, als ich 1980 oder etwas früher feststellen musste, dass das nicht so war. Wir haben uns nicht besser bewährt als die anderen. Wir sind korrupter geworden. Wir sind unseren Grundsätzen nicht treu geblieben. Ich habe große Angst, dass in Österreich ein bisschen das Gefühl abgestumpft ist und die Leute sagen: Na ja, was willst hab'n von an Politiker? Und das ist das Gefährliche.

Franz Vranitzky wird der Satz nachgesagt: „Wer Visionen hat, braucht einen Arzt.“

Wenn eine sozialistische Bewegung keine Visionen mehr hat, dann sind alle ihre Anstrengungen ein sinn- und zielloses Taktieren oder Soldknechtschaft für Interessengruppen.

Können wir eine sachliche Bewertung Ihres Konflikts mit Ihrem Vizekanzler und Finanzminister Hannes Androsch versuchen? Begonnen hat alles harmonisch, der Sonnenkönig und sein junger charismatischer Kronprinz...

Glauben Sie mir, das ist die größte Enttäuschung meines Lebens. Ich habe ihm ja nichts getan. Ich habe ihn geholt, hab ihn gefragt, mutest du dir das zu, den Finanzminister zu machen. Ich kannte ihn ja damals noch wenig. Zu meinem Erstaunen hat er, ohne mit der Wimper zu zucken, Ja gesagt. Mit 32 Jahren!

Ich nenne einmal die Stufen der Konflikteskalation, die zum Ausscheiden Androschs aus der Regierung 1981 geführt haben. Die Entfremdung begann mit Differenzen in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen.

Niemals habe ich die Finanzpolitik des Herrn Doktor Androsch kritisiert. Ich trage dafür die volle Verantwortung. Ich habe an ihm nur wenige Sachen kritisiert. Ich bin erstens sehr zeitig schon für die Quellensteuer (Sparzinsenbesteuerung, Anm.) eingetreten. Das hätte viel gebracht. Man wollte es aber nicht. Dann bin ich mit der höheren Besteuerung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes gescheitert.

Die zweite Stufe des Konflikts: SP-intern hatte Androsch mächtige Befürworter, sodass sich hier eine Machtverschiebung anbahnte.

Androsch hat schon ganz früh die Macht von mir übernehmen wollen. Damals, als die Atomvolksabstimmung war, 1978, hat mich der Androsch offen stürzen wollen. Ist offen gegen mich losgegangen. Da hab ich offen gegen ihn zurückgeschlagen. Damit ist der Konflikt entstanden. Ich habe nicht Androsch besiegen wollen, ich hab nur verhindern wollen, dass Androsch die Partei auf den Weg der Amoralität führt. Was war sozialistisch an ihm?


Damit kommen wir zum dritten Punkt, zu Lebensstil und privater Vermögenspolitik. Stichwort: Androschs Steuerkanzlei Consultatio.

Meine Kritik an ihm war sehr begrenzt und – wie ich glaube – äußerst maßvoll. Er wollte sich von der Consultatio nicht trennen, also trennte ich mich von ihm. Man kann eben nicht immer nur das Verdienen sehen. Man muss auch die Grenzen erkennen.

Ziel Ihrer Wirtschaftspolitik war es, eine Wiederholung des Massenelends der Zwischenkriegszeit unter allen Umständen und um jeden Preis zu verhindern. Heute wissen wir, dass dieser Preis sehr hoch war.

Wer so wie ich die Zeit der großen Krise mit ihren hunderttausenden Arbeitslosen erlebt hat, der wird verstehen, wenn ich sage: Was immer in Österreich passieren mag, das darf es nicht wieder geben! Das muss das Ziel aller Politik sein.

Auch um den Preis, einen Schuldenberg zu hinterlassen? Sie haben in einer Hochkonjunkturphase, 1973/74, die Nettodefizite ohne Not überdurchschnittlich ausgedehnt.

Wer sagt denn eigentlich, wo die Grenze beim Schuldenmachen eines Staates liegt? Wir haben eben fast alles der Beschäftigungspolitik untergeordnet, und in Wirklichkeit weiß auch heute keiner, wie man dieses Problem in den Griff bekommt. Wir haben auch nicht einfach nur Geld unter die Leute gebracht, wie das Keynes gemeint hat, sondern eine Art Überkeynesianismus betrieben, indem wir das Deficit-Spending mit expansiver Handelspolitik, synchronisiert mit unserer Außenpolitik, gekoppelt und dabei auch unsere Infrastruktur aufgebaut und die Wirtschaft modernisiert haben. Und wenn mich einer fragt, wie denn das mit den Schulden ist, dann sag ich ihm das, was ich immer wieder sage: Dass mir ein paar Milliarden mehr Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten als mir ein paar hunderttausend Arbeitslose bereiten würden.

Was wird bleiben von Ihrer Regierungszeit?

Ich lege keinen Wert auf Kränze, die die Nachwelt mir flicht. Ich lege keinen Wert auf Denkmäler. Was ich gern hätte, wäre, wenn einmal die Periode, in der ich die politischen Verhältnisse in Österreich beeinflussen konnte, als eine Periode der Einleitung großer Reformen betrachtet würde, die ihre gesellschaftlichen Spuren hinterlassen und eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse gebracht haben. Nichts wäre grauslicher als der Gedanke, nur administriert zu haben.

Was war der Höhepunkt Ihres Lebens?

Der 15. April 1955 war der größte Tag meines politischen Lebens (Rückkehr aus Moskau nach Abschluss der Staatsvertragsverhandlungen, Anm.).Das war der Gipfel.

Was sehen Sie als Ihren größten politischen Fehler an?

Ich hätt halt sehr viel mehr Brutalität gebraucht, um etliches zu verhindern. Ich hab halt regiert.

Und welches Resümee Ihres Lebens würden Sie ziehen?

Ich hab mein Leben wirklich geliebt. Ich war sehr glücklich, mit beiden Füßen auf der Erde zu stehen und gleichzeitig doch zu träumen.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Nein. Was nachher ist, darüber will ich mir den Kopf nicht zerbrechen. Ich lebe gern, weil ich die Menschen liebe. Aber Angst vor dem Tod hab “ich keine.

Information:

Dieses „Interview“ mit Bruno Kreisky ist eine Collage aus Originalzitaten. Sie stammen aus seinen Reden und Veröffentlichungen, vor allem den Memoiren in drei Bänden (Band 1: „Zwischen den Zeiten“, Band 2: „Im Strom der Politik“, Band 3: „Der Mensch im Mittelpunkt“).

Ausgewertet wurdenauch Interviews, die Kreisky in seinem letzten Lebensjahrzehnt „Presse“, „Profil“, „Wochenpresse“ und „AZ“ gegeben hat, besonders ergiebig sind seine Interviews mit den Journalisten Elisabeth Horvath und Alfred Worm.

Die Literatur zu Person und Ära Kreisky ist umfangreich, sie wird sich im Jänner 2011, wenn der 100. Geburtstag gefeiert wird, noch beträchtlich vermehren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2010)

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