Aufbruch ins Ungewisse

Die "Wende" 1970. Der Wahlsieg Bruno Kreiskys über die regierende ÖVP überraschte alle.

Am Abend des 1. März 1970 kannte der Jubel in der SPÖ keine Grenzen. Erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik hatten die Sozialisten bei Nationalratswahlen die Volkspartei an Stimmen und Mandaten überflügelt. 48,39 Prozent votierten für die bisherige Oppositionspartei unter Führung von Bruno Kreisky, das bedeutete 81 Sitze im Hohen Haus. Die regierende Volkspartei unter Josef Klaus sank auf 44,7 Prozent – nur noch 79 Mandate.

Die Meinungsforschung war blamiert, die Volkspartei geschockt – und die SPÖ? Die konnte zunächst nicht fassen, was ihr da in den Schoß gefallen war. Gebannt starrte das Funktionärsvolk auf Kreisky, was der aus der verzwickten Lage machen würde.

Eine heikle Konstellation? Ja. Denn da war auch noch die FPÖ mit ihren mageren fünf Parlamentssitzen. Josef Klaus hätte es also in der Hand gehabt weiterzuregieren – mit der FPÖ Friedrich Peters als Partner. Doch der ÖVP-Chef erklärte noch in der Wahlnacht, dass eine „Koalition der Verlierer“ nicht infrage komme. Dass er die Niederlage anerkenne, dass er sich aus der Politik zurückziehe.

Ein unverhoffter Glücksfall für Kreisky (damals 59), der im Parteibüro seine engsten Mitarbeiter um sich schart: Heinz Brantl, Leopold Gratz, Hannes Androsch, Heinz Fischer, Josef Staribacher, Karl Blecha. In derselben Nacht lässt er seinen Sekretär Peter Jankowitsch beim verblüfften FPÖ-Chef Friedrich Peter anrufen: „Sind Sie noch heute zu einem persönlichen Gespräch mit Doktor Kreisky bereit?“

Natürlich ist Peter bereit. Er eilt in die SPÖ-Zentrale, dort empfängt ihn der Wahlsieger – in Filzpatschen. Es ist halb zwei Uhr früh, die Herren frieren. Über eine Wahlrechtsreform monologisiert Kreisky, über das Unrecht der Wahlarithmetik gegenüber Kleinparteien. Eine alte Klage der FPÖ. Über eine eventuelle Minderheitsregierung Kreiskys wird noch nicht spekuliert. Der Wahlsieger bleibt vage. Im Grunde ist er immer noch ein Großkoalitionär.

Reformer Klaus. Aber Peter verlässt gestärkt die Löwelstraße. Er wird nicht, wie er vorhat, am Vormittag seinen Rücktritt anbieten. Schon bald sehen die drei Parteien klarer. Klaus tritt vom Amt des Bundeskanzlers zurück, zutiefst geschockt – und wohl auch beleidigt. Hat er nicht gute Arbeit geleistet? War nicht er derReformkanzler schlechthin? Wohnbau, Verwaltung – alles neu. Das ORF-Gesetz, rascher Autobahnbau, die „Aktion 20“, also der erstmalige Versuch eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Politik, die Verhandlungen mit der EWG, der Baubeginn der Wiener UN-City, die Errichtung des ersten österreichischen Atomkraftwerks in Zwentendorf: All das hat der Wähler nicht honoriert, also sollen andere Koalitionsverhandlungen mit Kreisky führen.

Dieser wird von Bundespräsident Jonas beauftragt, eine Koalition mit der ÖVP auszuhandeln. Bereits am 5. März trifft man einander erstmals, 36 Tage lang dauern die Gespräche. Dem Verhandlungsführer der ÖVP, Hermann Withalm, unterläuft ein folgenschwerer taktischer Fehler. Er glaubt, dass Kreisky ja einen Konsens mit der ÖVP finden müsse, eine andere Variante eröffne sich nicht. Hat nicht die FPÖ in ihrem Wahlkampf gelobt: „Kein roter Kanzler“? Die Plakate hängen noch.

Withalm hat sich verschätzt. Kreisky setzt auf eine SP-Minderheitsregierung mit parlamentarischer Duldung durch die FPÖ. Für einige Zeit wenigstens. Ein Wagnis, das es seit 1945 noch nie gegeben hat. Wird der Bundespräsident mitspielen? Sicher ist das nicht.

Beim Verständnis um die Vorgänge in der Präsidentenvilla auf der Hohen Warte spielen Psychologie und Nostalgie mit. Kreisky und Jonas standen im März 1936 wegen Propaganda für die verbotene Sozialdemokratische Partei vor Gericht. Mit ihnen noch 26 Aktivisten der „Revolutionären Sozialisten“ und zwei KP-Funktionäre: „Hochverrat“. Der einzige Intellektuelle unter den jungen Leuten, Bruno Kreisky, hielt eine fulminante Verteidigungsrede, sodass die Strafen relativ milde ausfielen. Zum Galgen wurde keiner geschleppt. Kreisky war seitdem ein „Star“ unter den Linken Europas.

Und nun, 1970, in der entscheidenden Aussprache, sollte Jonas dem Freund eine Abfuhr erteilen? Jetzt, da für die so oft gedemütigte SPÖ erstmals der Kanzler in erreichbare Nähe gerückt ist? Jonas gibt Kreisky seinen Segen, nachdem der SPÖ-Chef versichert hat, es werde keine Dauerlösung. In einem Jahr wolle er Neuwahlen und stabile Verhältnisse anstreben.

Aber der so gekonnt Pokernde hat plötzlich Personalnöte. Er steht ohne fertige Ministerliste da. Nie hat die SPÖ damit gerechnet, einen Agrarminister stellen zu müssen. Auch das Finanzministerium war noch nie in ihrer Hand. Immerhin das Schlüsselressort.

Androsch. Kreisky will in seiner Not auf altbewährte Freunde zurückgreifen. Doch der Steirer Alfred Schachner-Blazizek (57), lehnt ab. Auch der Jugendfreund Felix Slavik (57). Der Wiener Finanzstadtrat will lieber Bürgermeister werden. Kreisky sondiert beim Gewerkschafter Rudolf Häuser, dann bei Länderbank-Chef Franz Ockermüller. Beide empfehlen Hannes Androsch.

So gelangt letztlich der 32-jährige Abgeordnete aus Floridsdorf, der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Hannes Androsch, ans Steuerpult der SPÖ-Minderheitsregierung. Er hat auf Kreiskys Frage, ob er sich das Amt zutraue, spontan bejaht: „Wenn mein Alter kein Hindernis ist.“ Ist es nicht. Später sollte es eines werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2010)

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