Gastkommentar

17. Juni 1953: Lehren einer gescheiterten Revolution

1953 zeigte: Politische Systeme bekommen bei Mangelwirtschaft und unterlassenen Reformen rasch Legitimationsprobleme.

Es ist ein Schlüsseldatum der deutschen Nachkriegsgeschichte: Mehr als eine halbe Million Menschen waren an diesem 17. Juni 1953 auf der Straße, streikten oder demonstrierten gegen die ostdeutsche Diktatur. Sowjetische Panzer walzten die Volkserhebung rasch nieder und retteten das SED-Regime. Der 17. Juni wurde dennoch zum Trauma der DDR-Führung, der die Angst vor der eigenen Bevölkerung im Nacken saß – trotz Mauer, Stacheldraht und Stasi.

Eine erste Lehre des Aufstands lautet, dass zu spät eingeleitete Reformen zur Explosion des Unmuts führen können. Zuvor gab es bereits Massenproteste im tschechischen Pilsen am 1. Juni. Es war das erste Aufbegehren gegen ein sozialistisches Terrorsystem hinter dem Eisernen Vorhang.

Zweite Lehre: Der Tod von Sowjetdiktator Stalin am 5. März hatte einen Umbruch nicht nur in Deutschland, sondern auch in Mitteleuropa angedeutet. Die Forschung sieht das Aufbegehren vom 17. Juni im Rückblick der Umbrüche von 1989, woraus eine dritte Lehre folgt: Eine Revolution im „Ostblock“ konnte nur bei gleichzeitigen länderübergreifenden Aufständen Erfolgsaussicht haben.

Keine zentrale Führerfigur

Die Bildung revolutionärer Organisationsformen von längerem Bestand war aufgrund des rigiden staatlichen Repressionsapparats mit sowjetischer Unterstützung allein in der DDR nicht möglich.

Der 17. Juni war – wenn auch gescheitert – dennoch beispielgebend und langfristig wirksam, obwohl er keine zentrale Führungsfigur hervorbrachte. Das hatten die Aufstände in Ungarn (1956) mit Imre Nagy, die Reformen in der Tschechoslowakei (1968) mit Alexander Dubček oder die Streiks in Polen (1980er-Jahre) mit Lech Wałęsa. Das allein war auch noch keine Erfolgsgarantie.

Eine vierte Lehre besagt, dass eine erfolgreiche Revolution nicht nur Zustimmung des internationalen Umfelds, sondern auch dessen Unterstützung braucht. Das militärische Eingreifen der Sowjetunion war nur ein Grund für das Scheitern. Der 17. Juni misslang auch, weil der Westen nicht aktiv werden wollte. Aus Sicht der USA sollte der „Topf auf kleiner Flamme kochen, ohne es zum Überkochen kommen zu lassen“. Das Geschehen blieb für sie nachrangig, wurde allerdings instrumentalisiert – auch, um die Westintegration der Bundesrepublik abzusichern.

Die Tragik des Aufstands bestand darin, dass sein Scheitern allen Gegnern eines Kompromisses zwischen Ost und West sowie all jenen nutzte, die am Status quo festhielten. Die Ostdeutschen erwarteten vom Westen mehr als nur zur Schau getragene menschliche Anteilnahme und propagandistische Kundgebungen.

Lernen kann man vom 17. Juni ferner, dass revolutionäre Ereignisse unbeabsichtigte Eigendynamiken entwickeln: Entgegen ihrer Einheitsforderung trugen die Aufbegehrenden ungewollt zur Verstetigung der deutschen Teilung bei. Churchills Vorschlag vom 11. Mai, mit dem Kreml über ein neutralisiertes Gesamtdeutschland zu verhandeln, wurde mit dem 17. Juni unmöglich. Die westliche Bereitschaft sank auf null.

Ein Befürworter der Preisgabe des Ulbricht-Regimes, Stalins Ex-Geheimdienstchef Lawrentij Berija, kam in Moskau durch den 17. Juni selbst in Bedrängnis, wurde gestürzt, aller Ämter beraubt und schließlich erschossen. Die Niederschlagung des Aufstands war hingegen Konrad Adenauer dienlich, weil seine Westpolitik damit Bestätigung fand und er angesichts der sowjetischen Repression von Vier-Mächte-Gesprächen abraten konnte, wenngleich er taktisch zur Beschwichtigung der deutschen Öffentlichkeit solche forderte.

DDR-Bürger als die Verlierer

Der 17. Juni stärkte Adenauers Position sowohl im Bündnis mit den Westmächten als auch in der Innenpolitik, wie sein Wahlsieg vom 6. September bewies. Die Westintegration besaß jetzt eine breite parlamentarische Basis.

Von den revolutionären Ereignissen profitierten ganz andere als die Aufständischen: Nachdem in Bonn der Besitzstand gewahrt werden konnte und der Teilungsprozess voranschritt, hielt Moskau weiter an Ulbricht fest. Es herrschte eine eigentümliche Dialektik: Solang das Primärziel der Westmächte die bundesdeutsche Westintegration blieb, solang war die Ostintegration der DDR dienlich.

Die Sieger des Zweiten Weltkrieges blieben aus Prinzipientreue Verbündete gegen Deutschland, zumal es dort um die Konsolidierung ihrer Einflussbereiche ging. Die Verlierer waren das schwächste Element des Geschehens – die Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang, die auf die Einheit gehofft hatten. Dass der Westen gleichzeitig das Geschäft des „Keep the Germans down“ in diesem Falle durch ihren ideologischen Gegner besorgen ließen und in Berlin zusahen, wie dies geschah, war der Machiavellismus der substanzlosen „Rollback“-Doktrin der USA. Für den Normalbürger war dieses subtile Spiel schwer durchschaubar.

Langer Weg zum 9. November

Psychologisch blieb der 17. Juni für das Selbstverständnis der Menschen in der DDR aber bedeutsam. 1953 zeigte sich, dass politische Systeme bei anhaltender Mangelwirtschaft und unterlassenen Reformen rasch existenzielle Legitimationsprobleme bekommen sollten. Mit Blick auf den 9. November 1989 erscheint der 17. Juni, der – einem Vorschlag Herbert Wehners (SPD) zufolge – als „Tag der deutschen Einheit“ bis 1990 als gesetzlicher Feiertag begangen worden war, gleichermaßen als vorrevolutionärer Aufstand.

Eine allzu lineare und retrospektive Deutung kann jedoch die Entstalinisierung (ab 1956), den Grundlagenvertrag BRD-DDR (1972), die KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) mit der Entspannungspolitik sowie die Reformen von Gorbatschow ab 1985 nicht unberücksichtigt lassen, die auf dem langen Weg vom 17. Juni 1953 bis zum 9. November 1989 lagen.

Zuletzt lehrt der 17. Juni, dass alle politischen Tabus einmal enden: Die Geschichte schlug zurück und brach der Wahrheit Bahn, als die Lesart vom „Putschversuch faschistischer Provokateure“ und von der „Konterrevolution“ trotz und gerade aufgrund staatlicher Propaganda und offizieller Geschichtsklitterung nicht mehr haltbar war.

Verlorene Legitimation

Die revolutionären Veränderungen in der DDR im Jahre der 40. Wiederkehr der Staatsgründung führten zur gewaltlosen Entmachtung der SED-Spitze sowie zur Umorientierung der nun als „Wendehälse“ bezeichneten Politfunktionäre. Die Partei verlor mit der Kommunikation auch die Legitimation. Der „antifaschistische Schutzwall“ war zum Stigma des Sozialismus geworden. Im kollektiven Bewusstsein war die Erfahrung mit dem 17. Juni so verankert, dass darin ein Schlüssel zur Beantwortung der Frage gesehen werden kann, warum der Herbst 1989 friedlich verlaufen ist.

Der Autro

Michael Gehler (* 1962 in Innsbruck) studierte Geschichte und Germanistik an der Uni Innsbruck, habilitierte sich 1999 und war dort a. o. Professor am Institut für Zeitgeschichte. Seit 2006 ist er Professor und Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim und Jean-Monnet-Professor für vergleichende Geschichte Europas und der europäischen Integration.

Buchhinweis: Michael Gehler/Rolf Steininger: „17. Juni 1953. Der unterdrückte Volksaufstand. Seine Vor- und Nachgeschichte“. Reinbek (Lau-Verlag). Erscheint im Juni 2018.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2018)

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