Der Brückenbauer und das Scheitern der Asylpolitik

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Die nationalen Regierungen verhindern die Schaffung eines leistungsfähigen EU-Migrationswesens - und stellen Kanzler Kurz vor seine erste europäische Bewährungsprobe.

Solidarität und Verantwortung: in diesen beiden Währungen stellen Europas Regierungen einander in der Migrationspolitik saftige Rechnungen aus. Solidarisch mögen sich doch bitte all die reichen Zielländer der Kriegsflüchtlinge und opportunistischen Wirtschaftsmigranten zeigen, wünscht man sich in Italien und Griechenland. Verantwortungsvoll mögen doch bitte die Italiener und Griechen bei der behördlichen Erfassung, Abwicklung der Asylverfahren und - im Fall negativer Entscheidungen - raschen Abschiebung in ihre Herkunftsstaaten sein, schallt es aus Frankreich, Deutschland, Österreich zurück. Seit Jahren geht das so hin und her, der Krisensommer 2015 hat das fundamentale Problem der europäischen Asylpolitik für jedermann sichtbar scharf ins Relief treten lassen.

Dieses Problem liegt darin, dass die Regel, wonach der erste EU-Staat, dessen Boden ein Asylwerber betritt, für dessen Verfahren zuständig sein soll, nicht praktikabel ist. Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten sind in Italien einfach untergetaucht, ohne dass die Behörden ihrer habhaft werden. Viele probieren es in mehreren EU-Staaten, oft mit verschiedenen, falschen Identitäten. Die nationalen Behörden kooperieren zu wenig, Migrationsprobleme werden - gemeinsame Außengrenzen hin, Schengenraum her - im Ernstfall stets als nationale Herausforderung gesehen. Dieser Engstirnigkeit verdanken wir den sinnlosen "Assistenzeinsatz" von Präsenzdienern in burgenländischen Kukuruzfeldern und die nervenden, kostspieligen Kontrollen an den Grenzen zu unseren Nachbarn Deutschland und Ungarn.

Die Europäische Kommission hat vor zwei Jahren versucht, die Unzulänglichkeit der erst 2013 novellierten Dublin-Verordnung über die Art und Weise der Asylgewährung in der Union mit einer Neufassung zu reparieren. Gewiss: der Novellenentwurf aus der Generaldirektion von Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos lässt politischen Realitätssinn vermissen. Er schlägt erneut eine quotenmäßige Verteilung von Asylwerbern auf alle Mitgliedstaaten vor, wenn auch nur für vage definierte Ausnahmesituationen, über deren Bestehen das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen auf Malta, hochgerüstet zu einer weiteren EU-Agentur, befinden soll. Würde sich ein Innenminister von Eurokraten auf Malta vorschreiben lassen, wann er Flüchtlinge aus anderen EU-Staaten übernehmen soll? Wohl kaum.

Über die Klugheit des Kommissionsvorschlages für die Dublin-Reform kann man trefflich streiten. Bloß: wieso haben die Innenminister das in den zwei Jahren, seit ihnen diese Vorlage verfügbar ist, nicht getan? Wieso wollen sie erst heute, Dienstag, bei einem informellen Arbeitsfrühstück in Luxemburg darüber befinden, ob dieser Novellenentwurf, von der bulgarischen Ratspräsidentschaft leicht geändert, überhaupt als Basis für Verhandlungen taugt?

Sich nach zwei Jahren in einer für das Fortbestehen der Union so wichtigen Frage gerade einmal darauf einigen zu wollen, dass man weiterzuverhandeln nicht völlig abgeneigt ist, spricht nicht für die Fähigkeit der nationalen Regierungen, echte, grenzüberschreitende Probleme zu lösen. Zumal ohnehin klar ist, dass Italien und die Visegrad-Staaten - aus genau entgegengesetzten Gründen - gegen diesen Reformentwurf sind.

In einer idealen Welt schlüge nun die Stunde politischer Kunsthandwerker des Kompromisses. Ist Sebastian Kurz ein solcher? Er wolle ein Brückenbauer sein in der Mitte Europas, wird der Kanzler zu behaupten nicht müde. Nun: hier, auf der Großbaustelle der europäischen Migrationspolitik, böte sich ihm reichlich Gelegenheit zur Überwindung gegenseitigen Misstrauens und unvereinbar scheinender nationaler Interessen.

Zumal das Versagen einer gemeinsamen Asylpolitik das Schlüsselproblem Europas ist. Und zwar nicht, weil wie vor drei Jahren unüberschaubare Menschenmassen gen Europa wandern: die Migrationsbewegungen und Grenzübertritte in Europas Süden sind weit geringer als damals und stehen bisher auch hinter den vergleichbaren Werten des Vorjahres. Doch das Scheitern der Asylpolitik - von der raschen Abwicklung der Verfahren über das Verhindern des Abtauchens und den Kampf gegen das Asylshopping bis zur zügigen Abschiebung derer, die keine stichhaltigen Fluchtgründe vorweisen können - lässt alle anderen politischen Probleme schärfer hervortreten: von der Arbeitslosigkeit über die Bildungsmängel und die Kriminalität bis zur Wohnungsnot.

"Die EU muss stärker in den großen Fragen sein", pflegt Kanzler Kurz zu sagen. Gibt es eine größere als die Asylpolitik? Vermutlich nicht, mit Ausnahme der Festigung der Wirtschafts- und Währungsunion. Wenn er verhindern möchte, dass "seine" Ratspräsidentschaft am 1. Juli mit einem gewaltigen Rückschlag beginnt, wäre Kurz gut beraten, jetzt alle Dinge in die Wege zu leiten, um das Scheitern der Dublin-Reform doch noch abzuwenden.

Ob da sein Koalitionspartner, ob da Innenminister Kickl mitspielt? Allzu großes Interesse daran, sich mit seinen europäischen Amtskollegen ins Einvernehmen zu setzen, hat er bisher nicht erkennen lassen.

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