Türkei: Ein Wahlkampf aus dem Gefängnis

Anhänger des HDP-Kandidaten Demirtaş sehen sich seine Wahlbotschaft an.
Anhänger des HDP-Kandidaten Demirtaş sehen sich seine Wahlbotschaft an. (c) REUTERS (SERTAC KAYAR)
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Der inhaftierte Kandidat der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, wendet sich über soziale Medien an die Wähler. Die Kemalisten könnten der Partei gefährlich werden.

Wien/Ankara. Es ist in jeglicher Hinsicht ein ungewöhnlicher und richtungsweisender Wahlkampf für die prokurdisch-linke HDP. Nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei vor knapp zwei Jahren inhaftierten die Behörden die Doppelspitze der Partei und setzten etliche gewählte Provinzpolitiker ab. Das Parlament hob die Immunität der HDP-Abgeordneten auf. Pauschaler Veracht: Terrornähe oder Terrorpropaganda.

Die erst sechs Jahre alte Partei schlägt nun mit einem ungewöhnlichen Wahlkampf für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni zurück: Sie kürte den ehemaligen Parteichef Selahattin Demirtaş zum Präsidentschaftskandidaten, der in Edirne inhaftiert ist und sich von seiner Zelle aus als Kandidat der Inklusion in Szene setzt. Am Mittwoch wandte sich Demirtaş über soziale Medien erstmals mit einer Audiobotschaft an die Bevölkerung. Zuvor ließ er twittern: „Ich denke, es kommt zum ersten Mal vor, dass ein Präsidentschaftskandidat vom Gefängnis aus eine Rede hält.“

In dem Video kommt die Familie des Kandidaten im Wohnzimmer zusammen, ehe Demirtaş seine Frau anruft und seine Botschaft übermittelt: Seit 20 Monaten werde er ungesetzmäßig festgehalten. „Ich bin eine politische Geisel“, so der Jurist. Gegen die Diffamierungen der Regierung und regierungsnahen Medien könne er sich nicht wehren. Die Türkei verwandle sich in ein offenes Gefängnis, so Demirtaş weiter. Mit seiner Wahl aber werde er sich gegen die Spaltung des Landes einsetzen und eine gerechte Justiz installieren. Wie allgemein im Wahlkampf auch, präsentiert sich Demirtaş nicht nur als Vertreter der Kurden, sondern aller Staatsbürger und insbesondere der arbeitenden Bevölkerung.

Drei Minuten im Fernsehen

Demirtaş war bereits 2014 Präsidentschaftskandidat und erreichte knapp 9,8 Prozent der Stimmen. Seine Popularität ist seither gestiegen, zumal es die HDP ein Jahr später geschafft hat, als erste prokurdische Partei die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden und ins Parlament einzuziehen – auf Kosten vieler AKP-Stimmen im Südosten des Landes. Das stößt der Regierungspartei noch immer sauer auf.

Im Wahlkampf stützt sich die HDP auf soziale Medien und auf den Wählerkontakt auf der Straße, in den (regierungsnahen) Medien ist die Partei kaum vertreten. Das bestätigt auch Transparency International: Die Nachrichten des staatlichen Senders TRT ließen Präsident Recep Tayyip Erdoğan bisher 105 Minuten Platz, Muharrem Ince von der kemalistischen CHP 37 Minuten, der Nationalistin Meral Akşener 14 Minuten – und Demirtaş drei Minuten. Vergangene Woche lud der private Sender Fox die HDP-Doppelspitze zu einer Fragerunde ein. Erstmals hätten sie nun die Möglichkeit, sich an ein breites Publikum zu wenden, sagte HDP-Ko-Chef Sezai Temelli zu Beginn der Sendung.

In diesem TV-Format wurde erneut deutlich, warum es die HDP schwer hat, in der breiten Mitte anzukommen. Ko-Chefin Pervin Buldan wollte sich partout nicht von der PKK distanzieren, wie es Selahattin Demirtaş schon gemacht hatte. Eine friedliche Lösung für die Kurdenfrage sei mit dieser AKP nicht möglich, sagte Buldan weiter.

Populärer Gegner

Im laufenden Wahlkampf jedenfalls hat der Hohe Wahlausschuss Demirtaş zwei Auftritte im staatlichen Sender zugestanden. Die Details dieser Aktion sind noch offen, vermutlich werden die Clips im Gefängnis gedreht. Diversen ausländischen Zeitungen beantwortete er – über seinen Anwalt – schriftlich Fragen, sein Team verbreitet seine Statements über Twitter.

Für die HDP stellt sich derzeit die große Frage, ob sie erneut die Zehn-Prozent-Hürde knacken kann. Derzeit sieht es knapp aus. Denn mit Muharrem Ince hat die CHP einen unerwartet populären Kandidaten ins Rennen geschickt, teilweise wildern die Parteien in denselben Schichten. Ince besuchte Demirtaş jüngst im Gefängnis. Und er stimmte im Parlament – entgegen der Parteilinie – gegen die Aufhebung der Immunität für die HDP-Abgeordneten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2018)

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