Gastkommentar

Deutschförderung: „Weiter so“ hilft nicht weiter

Vielleicht sollten wir weniger ideologisch denken und den Neuzuwanderer ohne Deutschkompetenz in den Mittelpunkt rücken. Aus Gründen der Freundlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit und wegen der Effizienz des Systems.

Würden Sie einem Nichtschwimmer raten, in das tiefe Becken zu springen – und zwar mit dem Hinweis, schwimmen lernt man am besten durch das Beobachten der anderen? Wohl nicht, wäre die Antwort.

Aber genau dem entspricht der Ratschlag wohlmeinender Sprachwissenschaftler und mancher Politiker. Taucht nur ein in das Sprachbad der Einheimischen, und ihr werdet deren Sprache schon lernen. Nur nicht trennen, lautet dabei die Devise, denn das Trennen ist so unsympathisch, erfordert eine Entscheidung und erinnert an dunkle Zeiten.

Dass man dem Nichtschwimmer jedoch einen eigenen Unterricht anraten würde, der auch getrennt von jenem der Schwimmer abläuft, spielt dabei keine Rolle. Der Vergleich liegt zu weit weg und die Aufforderung, nicht zu trennen, ist auch eher Gefühl und nicht Ratio.

Wegschauen und negieren

Aber das ist ein Teil des gesellschaftspolitischen Problems. Man bedauert auf der einen Seite das niedrige Bildungsniveau der Zugewanderten, beklagt die großen Bildungsrückstände in der 4. und 8. Schulstufe beim Lesen und Schreiben, nachgewiesen durch internationale und nationale Bildungstests. Man lamentiert über die hohe Arbeitslosigkeit und die niedrige Erwerbsquote und will auf der anderen Seite nicht dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche mit nicht deutscher Erstsprache so in die Schule kommen, dass sie dem Unterricht folgen können. Sie holen dann in weiterer Folge die Nachteile auch nur schwer auf, denn das Schulsystem ist im Kompensieren nicht sehr stark.

Dieses Wegschauen und Negieren eines realen Problems hat die Bildungs- und Integrationspolitik schon lang gekennzeichnet, nicht nur in Österreich. Die Flüchtlingszuwanderung der Jahre 2015 und 2016 hat dieses Problem aber nochmals akzentuiert.

Österreich führt ab September ein neues System der Deutschförderung ein. Es sieht eine teilintegrative, altersmäßig abgestufte und zeitlich begrenzte Einrichtung von Deutschförderklassen vor und folgt damit dem Modell der Willkommensklassen in Finnland, Dänemark, den Niederlanden und Kanada, auch wenn sie dort jeweils anders bezeichnet werden. Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht aufgrund mangelnder Deutschkompetenz nicht folgen können, eröffnen eine Deutschförderklasse, wenn eine bestimmte Anzahl an solchen Schülern am Schulstandort erreicht wird.

In der Deutschförderklasse erfolgt eine fokussierte Deutschförderung und in der Regelklasse ein ergänzender Unterricht in weniger sprachsensiblen Fächern. Wenn die Deutschkenntnisse so weit verbessert werden konnten, dass die Schüler dem normalen Unterricht folgen können, dann wechseln sie dorthin und erhalten weitere Förderung über Deutschförderkurse. Der Überstieg soll so rasch wie möglich und so kompetent wie notwendig erfolgen.

Gerade Wien wird profitieren

Die Feststellung, ob jemand als außerordentlicher Schüler geführt werden muss, erfolgt auf Basis einer klaren Testung. Das wird auch notwendig sein, denn in dem Bereich verfolgen die Bundesländer eine unterschiedliche Praxis und vergeben den Status des außerordentlichen Schülers öfter, als es aufgrund der Neuzuwanderung anzunehmen wäre. Der Unterricht in den Deutschförderklassen wird in einem ersten Schritt auf Basis bestehender Lehrpläne für Deutsch als Fremdsprache geregelt, ab dem Schuljahr 2019/20 nach einem eigens erstellten Lehrplan. Den Unterricht durchführen werden Lehrerinnen und Lehrer des Unterrichtsfachs Deutsch mit und ohne Zusatzausbildung Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache.

Der Bund stellt für das Deutschförderkonzept insgesamt rund 40 Millionen Euro jährlich zur Verfügung, das entspricht rund 400 Millionen Euro bei Umlegung auf eine deutsche Größenordnung.

Vom neuen System der Deutschförderung wird besonders Wien profitieren, auch wenn es die rot-grüne Stadtregierung so nicht sehen möchte. Schließlich ist das Konzept von einer ÖVP/FPÖ-Koalitionsregierung konzipiert worden, und die Stadt versteht sich manchmal als politisches Gegenmodell zum Bund. Rund 40 Prozent der Zugewanderten leben in der Stadt, ebenfalls rund 40 Prozent der außerordentlichen Schüler werden in Wien gezählt, und rund 60 Prozent der Asylberechtigten halten sich in der Stadt dauerhaft auf. Wien ist die Primatstadt Österreichs. Sie erzielt daraus einen Mehrwert und kämpft gleichzeitig mit all den Schwierigkeiten, denen sich eine wachsende Stadt konfrontiert sieht.

Ein lernendes System

Was beim Nichtschwimmer klar ist, darf bei der Schule nicht gelten. Um die Einführung zu vermeiden, wird das Aufschieben eingefordert. Ein einfaches „Weiter so“ erscheint angesichts der empirischen Befunde aber nicht ratsam und auch nicht notwendig. Außerdem ist gerade das Bildungssystem ein lernendes System und wenn sich herausstellt, dass das eine oder andere nachzujustieren ist, dann wird das verantwortliche Ministerium darauf reagieren.

Es wird auch darauf dringen, dass die Sprachförderung früher anfängt – bereits im Kindergarten. Damit kann man zwar die Quer- oder Seiteneinsteiger nicht erreichen, aber jene Kinder mit einer nicht deutschen Erstsprache, die sonst mit erheblichen Startnachteilen ihre Schulkarriere beginnen.

Das fremde, stumme Kind

2012, als erstmals die Debatte um Deutschfördermaßnahmen für Neuzuwanderer aufkam, hat Vladimir Vertlib, ein 1966 in St. Petersburg geborener Schriftsteller, der über den Umweg Israel 1972 nach Österreich zuwanderte, einen Beitrag verfasst und in der „Presse“ veröffentlicht. Er nannte ihn „Du fremdes, stummes Kind“, und er schilderte darin die große Schwierigkeit, ohne sprachliche Vorbereitung am Unterricht teilnehmen zu müssen.

„Ich war stumm, taub und fremd, aber es gab kaum jemanden, der bereit gewesen wäre, darauf Rücksicht zu nehmen. Kurz gesagt: Es war keine schöne Zeit, und nachträglich betrachtet hätte ich viel dafür gegeben, wenn ich damals einen Crashkurs hätte besuchen können [...] Ich selbst hätte viel lieber einen Unterricht in einer Vorschule gehabt, bei dem es wirklich primär um den Spracherwerb gegangen wäre – zusammen mit anderen Kindern [...], denen ich mich nicht hätte unterlegen fühlen müssen, und mit einer Lehrkraft, die sich voll und ganz auf meine Sprachprobleme und Bedürfnisse eingestellt hätte.“

Einzelevidenzen belegen wenig, sie sind austauschbar. Aber zum Nachdenken regen sie dennoch an. Vielleicht sollten wir tatsächlich weniger ideologisch und vorurteilsbehaftet denken und den Neuzuwanderer ohne Deutschkompetenz in den Mittelpunkt der Überlegung rücken – aus Gründen der Freundlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, aber auch aus Gründen der Effizienz des Systems.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Heinz Faßmann (* 1955 in Düsseldorf) studierte Geografie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien.
Ab 2000 Professor für Angewandte Geografie, Raumforschung und Raumordnung; von 2011 bis 2017 Vizerektor der Uni Wien; seit 2010 Leiter des Expertenrats für Integration im Außenamt. Seit Jänner 2018 Bundesminister für Bildung, Sport und Wissenschaft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2018)

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