Der "Aquarius"-Streit zwischen Italien und Frankreich eskaliert

Gerettete Flüchtlinge auf einem Bild der Organisation Ärzte ohne Grenzen
Gerettete Flüchtlinge auf einem Bild der Organisation Ärzte ohne GrenzenAPA/AFP/MSF/SOS MEDITERRANEE/KAR
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Der Streit zwischen Frankreich und Italien nahm in gegenseitigen Vorwürfen wegen des Migrantenschiffs "Aquarius" seinen Anfang. Ein Treffen der Wirtschaftsminister wurde abgesagt. Der Paris-Besuch des neuen italienischen Premiers wackelt.

Eine Wortmeldung führte zu nächsten und nun ist ein handfester Disput zwischen Frankreich und Italien entstanden. Nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Italien wegen der Weigerung, mehr als 600 Flüchtlingen im Mittelmeer aufzunehmen, scharf kritisiert hatte, hat der italienische Außenminister Enzo Moavero Milanesi die stellvertretende französische Botschafterin in Rom, Claire Anne Raulin, am Mittwoch zu einem Gespräch einbestellt. Er habe ihr deutlich gemacht, dass die Äußerungen aus Paris "inakzeptabel" seien.

Und selbst auf Minister-Ebene gibt es nun Konsequenzen. Italiens neuer Wirtschaftsminister Giovanni Tria hat ein am Mittwochnachmittag in Paris geplantes Treffen mit seinem französischen Amtskollegen, Bruno Le Maire, abgesagt. Le Maire erklärte, er bedauere dies - vor allem wegen des EU-Gipfels Ende Juni. Schließlich gab es Mittwochnachmittag ein Telefonat der beiden Minister. Das Gespräch sei "freundschaftlich" gewesen, verlautete es in einer Presseaussendung des italienischen Wirtschaftsministeriums am Mittwoch

Italiens Verhalten "zum Kotzen"

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte Italien wegen der Weigerung, mehr als 600 Flüchtlinge von dem Hilfsschiff "Aquarius" aufzunehmen, am Dienstag "Zynismus und Verantwortungslosigkeit" vorgeworfen. Der Sprecher von Macrons Partei La Republique en marche, Gabriel Attal, hatte erklärt, Italiens Verhalten sei "zum Kotzen".

Das französische Außenministerium bemühte sich, den Streit mit Italien zu entschärfen: Das Ministerium erklärte, Frankreich lege viel Wert auf den Dialog und die Zusammenarbeit mit Rom in der Flüchtlingskrise. "Wir sind uns absolut bewusst, welche Bürde durch den Flüchtlingsdruck auf Italien lastet", hieß es.

Unklar ist, ob der italienische Premier Giuseppe Conte ein am Freitag geplantes Treffen mit Macron absagen wird. Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini hatte am Mittwoch vor dem Senat in Rom betont, Conte solle nicht nach Paris reisen, sollte sich Frankreich nicht für die jüngsten Äußerungen entschuldigen.

Auf die Kritik aus Frankreich hatte der 45-jährige italienische Innenminister Matteo Salvini scharf reagiert: "Die Franzosen haben an der Grenze zu Italien über 10.000 Migranten abgeschoben, darunter viele Frauen und Kinder (...) Wir alle zahlen einen hohen Preis für die Instabilität, die die Franzosen nach Libyen gebracht haben", sagte der Innenminister. Er kritisierte auch Malta. Malta stecke EU-Gelder für den Umgang mit der Flüchtlingsproblematik ein, nehme jedoch keine Migranten auf.

Nach der Sperrung der italienischen Häfen für das Rettungsschiff "Aquarius" sind die Seenotretter mit Hunderten Migranten in Richtung Spanien unterwegs. Ein Großteil der 629 geretteten Migranten stiegen auf zwei Schiffe der italienischen Marine und Küstenwache um. Diese fuhren dann zusammen mit der "Aquarius" am Dienstagabend los ins rund 1500 Kilometer entfernte Valencia.Nach Angaben des italienischen Innenministers Matteo Salvini hat Frankreich an der Grenze zu Italien in den ersten fünf Monaten des Jahres 10.249 Migranten abgewiesen.

Auch in dem Bericht einer unabhängigen französische Kontrollbehörde von Anfang Juni wird die Lage am Grenzübergang zwischen dem französischen Menton und dem italienischen Ventimiglia kritisiert: Die französische Grenzpolizei sei damit beauftragt, "die Grenze dicht zu machen", heißt es. Den Flüchtlingen würden systematisch Rechte verweigert - etwa auf einen Arzt, einen Übersetzer oder einen Anruf bei Verwandten. Dies gelte auch für Minderjährige.

Nach Salvinis Angaben hat Paris auch die Zusage gegenüber der EU nicht eingehalten, 9.816 Flüchtlinge aus Italien aufzunehmen. Bisher seien es nur 640 Menschen gewesen. Nach Angaben der EU-Kommission vom November nahm Frankreich im Rahmen des Umverteilungsprogramms (Relocation) sogar nur 377 Menschen aus Italien auf.

Salvini will deutsch-italienische-Achse

Italien und Deutschland wollen der EU einen gemeinsamen Vorschlag zum Schutz der EU-Außengrenzen vorlegen. Dies bestätigte Salvini nach einem Telefongespräch mit seinem deutschen Amtskollegen Horst Seehofer am Dienstag.

"Wir sind dabei, eine italienisch-deutsche Achse aufzubauen, die auf einem wesentlichen Motto basiert: Die Außengrenzen schützen. Dies bedeutet, das Mittelmeer und daher auch Italien zu verteidigen", so Salvini im Interview mit der Mailänder Tageszeitung "Corriere della Sera" (Mittwochausgabe). Dieses Thema werde er nächste Woche auch bei einem Telefongespräch mit dem österreichischen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) vertiefen, sagte Salvini.

"Ich bin seit nur elf Tagen Innenminister doch wir haben bereits ein wichtiges Resultat für die Italiener errungen: Nach sieben Jahren Gerede haben wir Europa aufgeweckt", sagte Salvini, der die bei der Flüchtlingsrettung aktiven NGOs scharf attackierte. "Schiffe ausländischer Organisationen können nicht die Einwanderung in Italien bestimmen", so der Lega-Chef.

Van der Bellen hat Verständnis

Italien zählt als Mittelmeerland zu den von der Flüchtlingskrise am meisten betroffenen EU-Mitgliedstaaten, fühlt sich vom Rest der Union aber seit Jahren allein gelassen. Derzeit versorgt das Land laut eigenen Angaben 170.000 Flüchtlinge; die Umverteilung Schutzbedürftiger auf den Rest Europas funktioniert wegen der mangelnden Aufnahmebereitschaft anderer EU-Länder nach wie vor kaum. Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen äußerte deshalb am gestrigen Mittwoch ein „gewisses Verständnis“ für das Vorgehen der neuen Regierung – zeigte sich aber gleichzeitig „froh und dankbar“ darüber, dass Spanien die abgewiesenen Flüchtlinge aufnehmen will.
Wohlwollende Unterstützung für Rom kommt insbesondere aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten Ungarn und Slowakei, die seit Ausbruch der großen Flüchtlingskrise im Sommer 2015 für eine striktere Einwanderungspolitik und gegen die von der EU-Kommission ins Spiel gebrachte Quotenregelung eintreten.

Die italienische Marine brachte unterdessen 932 Flüchtlinge und zwei Leichen nach Sizilien. Die zum Großteil aus Eritrea stammenden Migranten, darunter viele Familien mit Kindern, waren bei sieben Einsätzen im Mittelmeerraum gerettet wurden. In mehreren Städten starten Demonstrationen unter dem Leitspruch "Öffnet die Häfen".

(Red./APA)

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