Zeitreise im Wiener Untergrund

Bewirtschaftung und Bautätigkeit, aber auch Abfälle formen menschlich geprägte geologische Schichten.
Bewirtschaftung und Bautätigkeit, aber auch Abfälle formen menschlich geprägte geologische Schichten.(c) REUTERS (Leonhard Foeger)
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Geowissenschaft.Wissenschaftler suchen unter der Erde nach Spuren, die Menschen einst hinterließen. Damit wollen sie die Ausdehnung der Stadt seit der Römerzeit nachzeichnen.

Sie sind in den nächsten Monaten auf so ziemlich allen Großbaustellen Wiens anzutreffen: Michael Wagreich vom Department für Geodynamik und Sedimentologie der Uni Wien und sein Team haben es auf die Baugruben der Stadt abgesehen. Wenn die Bagger auffahren, entnehmen sie Proben aus dem Erdreich und führen chemische Messungen durch. „Wir interessieren uns für Schichten, die vom Menschen maßgeblich geformt wurden“, erklärt der Geowissenschaftler.

Anhand der verschiedenen Schuttdecken will er die Erdgeschichte Wiens klären. Damit lässt sich die Ausdehnung der Ansiedlung aus vorrömischer Zeit bis hin zum heutigen Speckgürtel nachzeichnen. Im Zentrum erwartet Wagreich menschliche Spuren, die bis zu 13 Meter tief reichen, und somit die ganze Bandbreite an Ablagerungen – vom Schutt der Römerfestung bis hin zu Techno-Fossilien (siehe Lexikon).

Abfall verrät Stadtwachstum

„Die Römer haben Wasserleitungen mit Blei gedichtet“, erklärt Wagreich. Das Ergebnis des heuer gestarteten Projekts wird zeigen, ob sie dies auch in Wien getan haben. Blei vermutet Wagreich aber auch in jüngeren Schichten. Er verweist auf die Verwendung des Schwermetalls bis in die 1970er-Jahre als Antiklopfmittel im Benzin und auf die Bleirohre in Altbauten. Plastik wiederum stellt einen deutlichen Marker ab den 1950er-Jahren dar.

Dass das Projekt in die Zeit der Bauarbeiten für die neue U-Bahnlinie U5 fällt, ist ein Glücksfall. „An Baugruben mangelt es uns nicht“, sagt Wagreich schmunzelnd. Darüber hinaus stehen den Wissenschaftlern 60.000 Bohrdaten aller bisherigen Wiener Grabungen, die in einer speziellen Datenbank gespeichert sind, zur Verfügung. Ziel des Projekts ist es, anhand der Ablagerungen ein 3-D-Modell der Stadt zu entwickeln. Es soll visualisieren, wie sich die vom Menschen verursachten Schichten über die Jahrhunderte hinweg in alle Richtungen ausgebreitet haben. Während die römische Siedlung noch mickrig war und sich die mittelalterliche Stadt im Kern mit dem heutigen ersten Gemeindebezirk deckte, ist Wien von der Neuzeit bis heute vergleichsweise rasant und wellenartig gewachsen.

Projektleiter Wagreich interessiert sich auch in einem übergeordneten Zusammenhang für menschliche Spuren im Untergrund: Er ist Teil jener Forschungsgruppe, die für die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS) klären soll, inwiefern die Einführung des Anthropozäns – also eines Zeitalters, das den Planeten vom Menschen geprägt definiert – Sinn macht. Innerhalb der Gruppe sei man bereits dazu übereingekommen, meint Wagreich. Im September tagen die Wissenschaftler erneut, um über den Beginn dieser Epoche zu verhandeln. Ein mögliches Signal dafür sei, so Wagreich, das Vorkommen von Blei in einer Schicht, was schon in älteren Sedimenten von vor 3000 Jahren der Fall ist. Die Experten der ICS-Gruppe tendieren jedoch zu einer pragmatischen – weil global gültigen – Antwort: Eine solche könnten die nachweisbaren Spuren der oberirdischen Atombombentests darstellen.

Geologie trifft Kunst

Unter Geologen ist die Einführung des Anthropozäns als neue Epoche umstritten. Für Wagreich lässt sich aber nicht so einfach wegdiskutieren, dass sich die Tätigkeit des Menschen schon tief ins Erdreich eingeschrieben hat: „Lange Zeit glaubte man etwa, der Klimawandel ließe sich umdrehen, aber aus meiner Sicht ist das alles unumkehrbar.“

Geisteswissenschaftliche Kritiker befürchten indes, dass das Konzept vom Anthropozän bisherige aber auch zukünftige Eingriffe in die Natur legitimiert. Für die geologische Beschreibung von Schichten sei dieser Einwand jedoch wenig relevant, befindet Wagreich. Im Wiener Projekt werden der Mensch und seine Rolle hingegen nicht ausgespart. In die Forschungen sind nicht nur Archäologen, sondern mit Katrin Hornek auch eine Vertreterin der Universität für angewandte Kunst involviert. Sie begleitet das Projekt filmisch und reflektiert dabei die Wechselwirkungen von Natur und Kultur aus künstlerischer Perspektive.

LEXIKON

Anthropozän ist die – nicht unumstrittene – Definition für ein neues vom Menschen geformtes Erdzeitalter. Sie bezieht sich darauf, dass die Einwirkung menschlicher Aktivitäten die Dimension natürlicher Einflüsse erreicht hat. Geprägt wurde der Begriff vom Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen.

Techno-Fossilien wie Aluminium, Beton und Kunststoff sind moderne und sich schnell entwickelnde Ablagerungen menschlicher Tätigkeiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2018)

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